„Roar, noch ein Wort zu Euch und Euren Männern“, rief Anwyll sie zusammen. Ihm machte die zunehmend ablehnende Haltung des Herolds Sorgen. Sich vergewissernd, dass dieser in hörbarer Entfernung war und es auch mitbekam, sah er alle eindringlich an. „Die Sitten und Gebräuche dieses Volkes sind den unseren sehr fremd, wie Ihr bereits gesehen habt. Seid jedoch versichert, die Gildaer sind – trotz ihrer .. ungewöhnlichen Kleidung“, die Männer lachten leise, „ebenso furchtlose Kämpfer wie Ihr. Wenn Ihr durch die Stadt geht, tut es zügig und lasst Euch nicht durch Blicke beleidigen. Sie sind zwar ein Händlervolk, aber den Anblick saranischer Krieger nicht gewöhnt. Und noch eines – richtet niemals unaufgefordert das Wort an ihre Frauen, starrt sie auch nicht an. Es wäre ein ernsthafter Verstoß gegen ihre Sitten.“
Die Männer nickten knapp auf die Worte ihres geistigen Oberhauptes. Sein Wort war Gesetz. Anwyll drehte sich um und machte dem Herold eine auffordernde Handbewegung, sie zu führen.
Jeldriks Ungeduld, endlich in die Stadt zu kommen, stieg ins Unermessliche. Nur widerwillig reihte er sich neben seinem Vater ein, der ihm als Anerkennung für sein Eingreifen kurz auf die Schulter klopfte und dadurch eine neue Staubwolke erzeugte, die alle vorhergehenden Waschversuche zunichtemachte. Sie tauschten ein Grinsen und folgten dem Herold, der ihnen voraus durch das Stadttor schritt. Die Wachen standen alle auf einen Schlag stramm vor den Gästen des Königs, Lanzen und Schilde knallten auf den Boden, dass es nur so in den Tiefen des Tores widerhallte. Jeldrik wunderte sich, dass sie keine Schwerter trugen. Die Rüstung jedoch war auch nicht viel anders, als er sie kannte – bis auf jenes Kleidungsstück, das sie alle so sehr erheiterte.
Sie traten durch das Stadttor. Vor ihnen erstreckte sich eine Straße, gepflastert und schnurgerade ansteigend bis zu einem weiteren mächtigen Tor in der mittleren Stadtmauer. Hohe Häuser säumten sie dicht an dicht. Jeldrik staunte über die Fassaden. Sie waren alle aus Stein und hell verputzt. Daher also das Strahlen, das sie schon von Weitem gesehen hatten. Ansonsten fand er die Häuser sehr merkwürdig. Kein Fenster, ja kaum einen Schlitz nach außen gab es, zumindest nicht im unteren Stockwerk. Die Häuser sahen aus wie kleine Festungen. Lebten sie so abgeschottet? Oder hatten sie Angst, bestohlen zu werden? Die mächtigen, sehr kunstvoll beschlagenen und verzierten Eingangstore sprachen dafür.
Er legte den Kopf in den Nacken und versuchte, einen Blick auf die oberen Stockwerke zu erhaschen, vergebens. Sie waren so zurückgesetzt, dass man von unten keinen Einblick hatte. Lediglich einen Teil der Dächer konnte er sehen, und er wäre beinahe stehen geblieben, spürte aber gerade noch rechtzeitig die nachrückenden Männer hinter sich. „Seht nur, Meister Anwyll, sogar die Dächer sind aus Stein.“ Niedrig waren sie, teils mit einer kleinen Kuppel, teils flach.
„Und, kannst du dir vorstellen, warum das so ist?“, brummte Roar über seine Schulter.
Jeldrik brauchte nicht lange nachzudenken. Er rief sich die baumlose Steppe in Erinnerung. „Sie haben kein Holz.“
„So ist es. Erinnere dich daran, unser Volk verdient eine Menge Gold damit, ihnen dieses rare Gut zu liefern.“
„Wie könnte ich das vergessen, Vater“, erwiderte Jeldrik ergeben. „Aber seht doch, ihre Tore sind aber trotzdem aus Holz“, rief er aus, als er sich an eines etwas näher heranwagte. Er fand es merkwürdig, aber er bewunderte die vielen Farben und Formen und die wertvollen bronzenen Beschläge. Manche der Tore standen auch offen. Wenn er weit und lange genug den Kopf verdrehte, konnte er einen Blick auf prächtige Innenhöfe mit allerlei Ständen und Waren erhaschen. Wie gerne hätte er dort gestöbert! Doch es ging ohne Halt weiter.
Rasch wandte er wieder seinem Vater seine ganze Aufmerksamkeit zu, der ihm gerade zuraunte: „Sieh nur genau hin, Sohn. Du kannst davon ausgehen, dass hier, an der Hauptstraße der Stadt, nur die reichsten Gildaer wohnen. Wie die Häuser der ärmeren Bewohner aussehen, das wirst du wohl erst in den nächsten Tagen erfahren. Vielleicht die Gelegenheit, mancherlei zu erfragen, hmm?“
Jeldrik grinste in sich hinein, sehr zufrieden auf einmal. Damit gab sein Vater ihm indirekt die Erlaubnis, durch die Stadt zu streifen. Er riss sich von den Häusern los und wandte sich den Menschen zu. Nein, arm sahen die Gildaer wirklich nicht aus. Jeldrik sah feine Stoffe in allen möglichen Farben und Verarbeitungen, selbst die einfacheren Träger wirkten wohlgenährt und gut gekleidet.
Die Gildaer waren kleiner als sie. Auch er mit seinen noch nicht einmal vierzehn Jahren überragte die meisten bereits um Haupteslänge. Sein Vater und dessen Männer mussten ihnen wie Riesen vorkommen. Hatte auf der Straße eben noch ein Gewühl aus Menschen, Karren, Sänften und Trägern geherrscht, so leerte sie sich bei ihrem Erscheinen merklich. Dafür erspähte er plötzlich in den Gassen und an allen Ecken schattenhafte Gestalten. Die waren doch eben noch nicht dort gewesen? Unauffällig rückte Jeldrik näher an seinen Vater heran. Es war ihm irgendwie unheimlich. Sein Verdacht, sie wurden überwacht, bekam neue Nahrung und verdarb ihm ein wenig die Freude beim Anblick der Stadt.
Der Herold schien dies zu bestätigen. Er schritt derart zügig aus, als wolle er die Stadt möglichst schnell hinter sich lassen. Ein Mann in einer schwarzen Kutte starrte sie an, schlug hastig ein Zeichen mit seiner rechten Hand und verschwand eilig in einer Gasse. Frauen zogen ihre Kinder beiseite, wenn keine Gasse in der Nähe war. Jeldrik fiel auf, dass alle Frauen ihr Haar mit großen, hüftlangen Tüchern bedeckt hatten und diese sogar anhoben, um ihr Gesicht darin zu verbergen. Er nahm sich zusammen und versuchte, sie nicht allzu offen anzustarren. Er fand sie schön – klein und zierlich, mit glutvollen Augen. Ein Blick hinter sich sagte ihm, dass auch die Männer seines Vaters sichtlich Mühe hatten, ihnen nicht doch hinterherzustarren, aber Anwylls Worte zeigten Wirkung. Sie beherrschten sich.
Sie ließen die Stadt hinter sich. Wieder standen die Wachen stramm. Jetzt zeigte sich, dass Roar richtig mit seiner Vermutung lag: Das große Gebäude auf der rechten Straßenseite hinter dem Tor war eine Kaserne, denn es strömten Soldaten aus und ein. Im Gegensatz zu den Bewohnern schienen sie sich nicht an den Fremden zu stören, sondern gingen ohne zu Zögern ihrem Tagewerk nach. Ihre Ankunft schien sich hier bereits herumgesprochen zu haben.
In dem Gebäude auf der linken Seite – Jeldrik blieb abrupt stehen, sodass die Männer auf ihn aufliefen – kämpften Jungen in einem großen Innenhof. Sie waren jeden Alters, von etwa zehn Jahren bis ins Erwachsenenalter, soweit er dies auf die Schnelle beurteilen konnte. Er wäre am liebsten hinzugetreten, aber sein Vater zog ihn mit festem Griff weiter. Der Innenhof entschwand seinem Blick, so sehr er auch den Kopf verdrehte.
Jetzt ging es steil bergauf. In vielen Serpentinen wand sich die Straße den Fels hinauf, immer noch gepflastert und durch eine halbhohe Mauer begrenzt. Jetzt musste der Herold doch etwas langsamer werden, denn Anwyll geriet schell außer Atem. So hatte Jeldrik mehr Zeit, die Dinge um sich herum zu betrachten. Das Haus des Wissens auf halber Höhe ließen sie ohne Halt hinter sich, obwohl es jetzt Anwyll war, der suchend den Kopf wandte, doch das Tor neben dem trutzig wirkenden Turm war verschlossen. Dafür hörten sie aus der Ferne das Plätschern des Wasserfalls und wurden daran erinnert, wie sehr sie sich nach Wasser sehnten. Der Herold führte sie zügig weiter, sie durchschritten das Festungstor, aber Jeldrik scherte aus ihrer Reihe aus und wandte sich noch einmal zur Stadt um. Der Ausblick war atemberaubend. Unter ihm erstreckte sich das Meer der Häuser, dahinter die endlose Steppe. Wie musste es erst von der Mauer oder von einem der vielen Türme aussehen, welche die obere Mauer krönten?
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