Jeldrik wusste um den oberflächlichen Zweck dieser Reise. Sein Vater, Fürst Roar von Saran, wollte mit dem König ein Handelsabkommen schließen. Sie führten ein noch wertvolleres Gut als das Wasser mit sich, so wertvoll, dass sie seit Ankunft ihres Führers auf Befehl seines Vaters nicht mehr darüber sprachen. Aber Jeldrik vermutete – auch wenn ihm niemand etwas sagte – dass diese Reise noch einen anderen Grund hatte, denn sie hatten einen hochrangigen Begleiter. Meister Anwyll von Temora war es, der Hohepriester der Völker des Westens. Dass er in seinem hohen Alter noch einmal auf eine derart weite Reise ging, konnte nur einen gewichtigen Grund haben.
Jeldrik hatte sehr schnell seine Scheu vor Anwyll verloren, seit er herausgefunden hatte, dass er von dem weisen alten Mann eine Menge lernen konnte. Dieser beantwortete geduldig und mit viel Humor seine vielen Fragen, anders als die Männer seines Vaters, die manchmal schon entnervt die Augen verdrehten und abwinkten. Nur nach diesem einen, besonderen Grund wagte Jeldrik nicht zu fragen, vielleicht, weil sein Vater auch im Vorfelde nicht darüber gesprochen hatte. Ein Geheimnis lag über dieser Reise, und nach der manchmal sehr in sich gekehrten Miene des alten Priesters zu urteilen, ein sehr gefährliches noch dazu. Was das wohl sein mochte? Jeldrik hatte jedenfalls beschlossen, Augen und Ohren offenzuhalten, um alles zu erfahren, worüber die Erwachsenen so hartnäckig schwiegen.
Plötzlich begann seine Stute zu scheuen, und auch die anderen Pferde wurden nervös. „Schscht, Jerika, was ist denn?“ Er zog die Zügel etwas straffer. Da hörte er es auch: Ein vielfaches Glöckchengebimmel erklang vor ihnen, gleich darauf tauchte aus dem Staub eine Schaf- und Ziegenherde auf. Sie wurde von Kindern begleitet, die bei ihrem Erscheinen erschrocken stehen blieben. Mit großen Augen starrten sie die Fremden an. Jeldrik fiel auf, dass sie dunkel waren, Haare, Augen und die Haut braun gebrannt, so wie ihre Führer auch.
„Buh!“, machte einer der Männer hinter ihm. Die Kinder schraken zusammen und stoben davon. Die Männer lachten.
„Och schade!“, sagte Jeldrik mit Bedauern, doch er sagte es nicht allzu laut. Gerne hätte er sie noch weiter betrachtet oder gar mit ihnen geredet. Sein Vater, der mit Anwyll vor ihm ritt, drehte sich um und erteilte den Männern eine scharfe, geknurrte Rüge. Sie wollten den Bewohnern dieses Landes keine Angst machen. Er hatte den Männern strenge Regeln auferlegt, und dies wirkte auch jetzt. Das Lachen verstummte augenblicklich und sie ritten schweigend weiter die Straße entlang.
Kurz darauf sahen sie, wohin die Kinder verschwunden waren. Vor ihnen öffnete sich eine breite, flache Senke in der Steppe. Darin musste sich ein See befinden, auch wenn sie kein Wasser sahen, dafür aber eine große Menge Schilf. Um ihn herum waren ausgedehnte Felder angelegt und – einer der Männer entdeckte ihn zuerst - es gab einen von niedrigen Bäumen und Gebüsch bestandenen Zufluss. Dies war das erste fließende Gewässer, das sie seit Langem zu sehen bekamen. Gleich daneben befand sich eine Siedlung, aber leider auf der anderen Seite des Sees, sodass nicht viel zu erkennen war, außer noch mehr Felder und Bewässerungsgräben.
Jeldrik sog den Anblick des Wassers in sich auf und bedauerte, dass sie an dem See vorbeiritten. „Vater, können wir nicht ..“ Er verrenkte den Hals in Richtung der Siedlung.
„Hab Geduld, die Stadt ist nicht mehr weit.“ Roar schmunzelte heimlich in seinen Bart, als er sich wieder nach vorne wandte. Er wusste genau, was sein Junge wollte, und er konnte es ihm nicht verdenken. Seine erste große Reise – da wollte er so viel sehen und erleben, wie es nur möglich war. Aber bald würden sie am Ziel sein: Gilda, Handelsstadt und Lebensader mit den einzigen größeren Quellen in der weiten Steppe des Landes. Der Sitz des Königs von Morann.
Der Führer drehte sich zu ihm um. „Fürst, gleich kommt sie in Sicht.“
Roar winkte Jeldrik neben sich und fing einen amüsierten Blick von Anwyll auf. Er wollte es nicht zugeben, aber auch er war gespannt. Viele Legenden rankten sich um diese Stadt, von ihren Reichtümern und Bauten, ausgeschmückt auch von den Händlern ihres Volkes, die bereits hier gewesen waren. Nun würden sie selbst erfahren, was der Wahrheit entsprach und was nicht.
Sie ritten aus der Senke heraus, immer begleitet von dem grün bewachsenen Rinnsal des Zuflusses, erklommen eine Anhöhe und da lag sie endlich vor ihnen.
Wie auf Kommando hielten die Männer an.
„Seht euch das an!“
„Bei den Göttern!“ So tönte es aus ihren Mündern.
Jeldrik blieb der Selbige nur offen stehen. Zu mehr brachte er es nicht, so gebannt war er von dem Anblick, und dabei war die Stadt noch weit entfernt. Erst als ein Windstoß ihm einen Schwall Staub in den Mund schickte, wurde ihm bewusst, dass er ein wahrhaft kindisches Verhalten an den Tag legte. Hastig presste er die Lippen zusammen und versuchte, eine unbewegte und, wie er hoffte, erwachsene Miene zu machen.
„Das ist ein Anblick, den man wahrlich nicht alle Tage zu sehen bekommt“, sagte Anwyll. Niemand erwiderte etwas. Dies würden sie alle bis an ihr Lebensende nicht vergessen.
Alle zugleich setzten sie sich wieder in Bewegung. Nun schälten sich immer mehr Details heraus. Jeldrik schaute auf die Stadt und wusste gar nicht, was er als Erstes benennen sollte. Alles stürmte auf ihn ein, die wehrhaften Mauern, die hellen, gleißenden Häuser und darüber auf einem hohen, steil zur Stadt hin abfallenden Tafelberg thronend, die riesige Festung. „Das höchste Gebäude ganz oben in der Mitte, Meister Anwyll, ist das die Halle des Königs?“, fragte er und lenkte seine Stute um seinen Vater herum an Anwylls Seite.
„Ja, das ist sie“, antwortete Anwyll.
„Und oben drauf, dieses runde ..“ Jeldrik suchte das gildaische Wort dafür und fand keines.
„Kuppel, mein Junge.“ Die Stille hinter ihnen verriet ihm, dass auch die Männer seinen Worten lauschten.
„Eine Kuppel ..“ So eine Riesige hatte Jeldrik noch nie gesehen. „Aber warum ist sie so merkwürdig verfärbt?“, wunderte er sich.
Auch darauf hatte Anwyll eine Antwort: „Denk doch einmal daran, wofür ist Gilda berühmt?“
„Natürlich, für sein Kupfer und seine Bronze! Dann ist die Kuppel damit beschlagen? Sie hat sich mit der Zeit verfärbt?“ Jeldrik schüttelte ungläubig den Kopf angesichts dieser Möglichkeit. Was für eine Verschwendung! Seine Augen suchten weiter den Berg ab. „Seht nur, sie haben zwei, nein, drei Stadtmauern“, rief er. Eine außen um die Stadt herum, eine oben um die Festung und die Mittlere hätte er fast nicht gesehen. Sie ragte ganz knapp am Fuße des Berges über das Häusermeer hinaus und schützte den Zugang zur Festung.
„Das nenne ich wahrhaft mächtige Mauern“, sagte einer der Männer hinter ihm. Jeldrik pflichtete ihm im Stillen bei. Sie schienen ihm unüberwindlich zu sein, besonders mit dem tiefen Wehrgraben vor der äußersten Mauer.
„Ihr wisst ja, dass mein ehemaliger Schüler Thorald seit mehr als zehn Jahren hier liebt. Er hat mir geschrieben, dass die Gebäude, die innerhalb der mittleren Mauer an der Straße den Berg hinauf liegen, ebenfalls zur Festung gehören. Die eigentliche Stadt beginnt erst außerhalb davon“, erklärte Meister Anwyll.
Roar hörte mit unbeweglichem Gesicht zu. Er war dabei, die strategische Anlage der Stadt in Augenschein zu nehmen. „Wisst Ihr, ob diese Gebäude das Heer beherbergen?“ Sie schienen ihm groß genug, das gildaische Heer aufzunehmen, das bewundert und gefürchtet zugleich in allen Ländern diesseits des großen Meeres war.
Anwyll runzelte die Stirn und kramte in seinem Gedächtnis. „Ich meine ja, aber sicher bin ich mir nicht. Schließlich hat Thorald es mir ganz am Anfang seiner Zeit hier beschrieben. Mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste“, sagte er mit einem übertriebenen Seufzer in Jeldriks Richtung.
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