Anwyll lächelte ihr zu, doch dann schauten die gütigen Augen mit einem Mal durchdringend. „Für wahr, du bist wirklich ein Vertreter beider Völker“, murmelte er erstaunt. Althea fühlte sich unter diesem Blick irgendwie unwohl. Es schien, als blickte er bis ganz tief in sie hinein. Rasch trat sie einen Schritt zurück, und der alte Mann zwinkerte ihr zu, als hätte sie ihm Antwort auf eine Frage gegeben, die nur sie beide hatten hören können.
Thorald bemerkte es nicht, er hatte sich an Naluri gewandt: „Meister Anwyll wird bei uns zu Gast sein, ich hoffe, Ihr seid einverstanden?“
„Natürlich“, nickte Naluri, „Ihr habt sicherlich viel zu bereden“, fügte sie mit einem bedeutsamen Blick auf Bajan und Meno hinzu, die sich nun ebenfalls der Gruppe näherten.
Sie verließen gemeinsam die große Halle. Nachdem sie die Familie der Königin an der Treppe zu ihrem Palast verabschiedet hatten, machten sie sich an den Abstieg zum Haus des Wissens. Alle Signalfeuer waren inzwischen entzündet und ihr Weg ausreichend beleuchtet. Althea stolperte fast vor Müdigkeit, sodass Thorald sie kurzerhand in den Arm nahm und sie sich dankbar an seine Seite kuschelte. Bajan verabschiedete sich am Tor zum Haus des Wissens und machte sich auf den Weg in seine Kommandantur in der Kaserne.
Anwyll trat mit Meno und Thorald in den Innenhof des Hauses, wo Lusela die Fackeln entzündet hatte und der Hof in einen warmen Schein getaucht war. Nun verabschiedete sich auch Meno und verschwand im Treppenhaus des Archivturms.
Anwyll blickte sich um. „Dies ist also dein Zuhause. Wie ich sehe, hast du dir ein ruhiges, kleines Refugium fernab des Palastes geschaffen. Eine kluge Wahl, wie ich nach dem heutigen Abend sagen muss.“
„Es ist ein bescheidenes, aber gemütliches Heim“, sagte Thorald und öffnete mit der inzwischen halb schlafenden Althea im Arm die Tür zur Diele. Lusela saß über eine Handarbeit gebeugt am Tisch und erhob sich, als sie eintraten.
„Meister Anwyll, dies ist Lusela, der gute Geist in unserem Hause. Es sei Euch geraten, Euch nicht mit ihr anzulegen“, zwinkerte Thorald und blickte auf Althea herab, „doch lasst mich nun erst einmal den kleinen Kobold hier ins Bett bringen. Lusela, würdest du unseren Gast mit etwas Wein versorgen?“ Er verschwand mit Althea im angrenzenden Gang.
Lusela und Anwyll begrüßten sich. „Ach, die Kleine!“, spöttelte sie, während sie Anwyll aufforderte, Platz zu nehmen, und ihm Wein einschenkte. „Hat sich heute wohl ein wenig verausgabt, wie mir scheint.“
Anwyll hob den Kopf. „Das Kind ist ein Mädchen?!?“, fragte er ungläubig.
„An Eurem Ausruf sehe ich, dass unsere Täuschung gelungen ist. Dieser kleine Wildfang hat sich in den Kopf gesetzt, reiten zu lernen.“ Lusela konnte inzwischen schon wieder darüber lachen und erzählte ihrem Gast die ganze Geschichte, die sie nach einigem Nachforschen bei Yola herausbekommen hatte. Sie schloss mit den Worten: „Ich weiß nicht, wo sie das her hat, kein Mädchen in Gilda verhält sich so!“
Anwyll schmunzelte: „Aber ich weiß es, es ist das Blut unseres Volkes in ihren Adern. Alle Frauen unserer Völker lernen reiten, manche lernen sogar das Kämpfen. Da die Männer oft auf See sind, ist dies der einzige Schutz, den die Siedlungen vor Feinden haben. Seht es also Eurem kleinen Mädchen nach, wenn dies Erbe mit ihr durchgeht. Wie heißt sie übrigens?“
„Althea.“ Sie blickte auf, denn Thorald betrat den Raum.
„Ihr seid also bereits beim Thema, und nach Eurer Miene zu schließen, habt Ihr bereits die Wahrheit über meinen Sohn erfahren. Verzeiht, Meister Anwyll, ich habe Lusela versprochen, heute Abend mit ihr zu bereden, was wir wegen meiner Tochter unternehmen sollen. Sie wächst einfach zu wild für die hiesigen Sitten auf, und die jüngsten Ereignisse, derentwillen Ihr ja auch hier seid, lassen mir kaum Zeit, mich außerhalb des Unterrichts um sie zu kümmern.“
Er trat an den Tisch, auf dem Lusela das Pergament abgelegt hatte, an dem Althea am Nachmittag geschrieben hatte. Lusela schaute fragend auf, denn sie konnte nicht lesen. Thorald verstand ihren Blick und las den Inhalt vor. Alle drei amüsierten sich köstlich, und Anwyll sagte anerkennend: „Sie ist für ihre zehn“, er blickte Thorald fragend an und dieser nickte, „zehn Jahre schon sehr weit, was Ausdruck und Schrift angeht. Zumindest im ersten Teil. Im zweiten Teil ist es dann wohl mit ihr durchgegangen.“ Er lachte leise beim Anblick der verschmierten Schrift.
„Sie braucht aber mehr Schliff, sich in diese Gesellschaft zu fügen“, sagte Lusela und nahm damit Bezug auf Anwylls Worte. „Ich mache Euch einen Vorschlag, Meister Thorald. Wie wäre es, wenn sie wie bisher am Vormittag von Euch unterrichtet würde, aber an den Nachmittagen, wo sie bisher herumgestromert ist, mit ihren Cousinen Unterricht in häuslichen Dingen und Etikette bekommen würde? Yola erzählte mir, dass die Königin die Zwillinge nun mehr und mehr an ihre Aufgaben heranführt und sogar plant, sie in die Häuser der hl. Asklepia mitzunehmen. Auch wenn es unserem Kobold nicht schmecken wird, diese Dinge muss sie auf jeden Fall lernen.“
„Ein guter Vorschlag, Lusela“, stimmte Thorald ihr zu.
„Ich werde gleich morgen früh zur Königin gehen und um Audienz ersuchen“, versprach Lusela.
„Das brauchst du nicht, wir treffen uns morgen früh alle hier. Sie wird gewiss einen Augenblick Zeit für unser Anliegen haben.“ Thorald blickte Anwyll an. „Wir hielten es für angeraten, uns vor der Ratssitzung morgen Mittag noch im kleinen Kreis zu beraten. Fürst Bajan und Meno werden auch dabei sein. Seid Ihr einverstanden?“ Anwyll nickte. „Dann lasst uns nun den Tag beenden und schlafen gehen“, schloss Thorald und erhob sich, um seinen Gast in die Gästekammer zu geleiten.
Im Palast war trotz der späten Stunde auch noch jemand wach. Alia lag nackt auf einem riesigen, mit seidenen Kissen und Decken überhäuften Bett und lauschte auf das Schnarchen des Königs.
Er hatte sie nach dem verführerischen Tanz geradewegs in seine Gemächer gezerrt und sie noch auf dem Fußboden genommen. Dann waren sie zum Bett gestolpert und hatten ihr Liebesspiel fortgesetzt, bis der König, berauscht von dem Wein, den sie ihm gereicht hatte, eingeschlafen war. So lag sie da und sonnte sich in dem triumphierenden Gefühl, das sie überkommen hatte, als sie vor dem entsetzten Hofstaat getanzt hatte. Den starren Blick der Königin würde sie nie vergessen. Der König gehörte ihr, ihr allein. Sie hatte die Macht über ihn, dies war heute wieder einmal überdeutlich geworden. Dank der Hilfe Bridas hatte sie sich an den Wachen vorbeischleichen und ihren Plan ausführen können.
Es war Ironie des Schicksals, dass sie es ausgerechnet einem als Mönch verkleideten Unbekannten zu verdanken hatte, der Gosse von Gildas Hurenviertel entkommen zu sein. Auch Mönche müssen sich einmal erleichtern, und sie kamen oft maskiert in die Hurenhäuser der Stadt. Alia schüttelte sich, als sie an die ungeschickten Versuche, sie zu erregen, dachte. Sie wusste bis heute nicht genau, wer ihr Gönner war. Sie vermutete einen der Ratsmitglieder oder hochrangigen Mönch dahinter.
Dabei fiel ihr ein, dass der Mann bald wieder eine seiner Stunden einfordern würde. Sie schnaubte verächtlich. Armer kleiner Mann hinter seiner Maske. Er war sicherlich nicht der Traum einer Frau mit seinem dürren Körper und den klammen kalten, gelblichen Fingern. Sie schüttelte sich, als sie an diese kalten Hände dachte. Aber was wollte man machen, jeder Erfolg hat seinen Preis.
Die heute eingetroffenen Gäste waren da schon eher nach ihrem Geschmack, besonders der stattliche Krieger in der aufwendig verzierten Rüstung. Vielleicht sollte sie ihm inkognito einen Besuch abstatten, es gelüstete sie danach, wieder von einem richtigen Mann in den Armen gehalten zu werden und nicht von einem schwabbeligen Fettberg – sie warf einen Blick auf den schnarchenden König – oder einem kalten Eisblock.
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