Rynan starrte sie an. »Und ich soll es auch nicht, oder?«, riet er.
Sie nickte bedrückt. »Versteh doch, sie wollen dich schützen. Wenn du es nicht weißt, kann es aus dir auch niemand herausholen. Rynan, bitte sei nicht böse«, flehte sie. Es war ihr ernst, das merkte er an ihrer verzagten Miene. Leanna brauchte ihn und konnte es nicht ertragen, wenn er ihr gram war.
Es stimmte ihn versöhnlich. »Vielleicht ist es besser, wenn ich es nicht erfahre«, sagte er und wandte sich wieder der Treppe zu.
»Nein, wenn ich jetzt so denke.. vielleicht brauchst du das Wissen noch, wenn du zum Steinbruch gehst.« Also erzählte sie ihm von Altheas Flucht aus Temora.
»Verdammt, da ist sie ja in etwas hineingeraten! Aber wie ich sie kenne, wird sie sich das nicht gefallen lassen haben«, versuchte Rynan, sie aufzumuntern. Schließlich hatte er ja auch so seine Erfahrungen mit Althea gemacht.
Leanna konnte schon wieder lachen. »Das glaube ich auch. Ich bin gespannt, was Tavar zu ihr sagt, wenn sie sich das erste Mal begegnen. Wahrscheinlich flüchtet er vor Schreck zurück nach Nador!«, spottete sie.
Rynan sah sie mit schräg gelegtem Kopf an. »Und ich glaub’, du magst ihn doch«, grinste er und neckte sie noch damit, als sie vor Darias Kammer angelangt waren.
»Hör endlich auf!«, zischte Leanna und tastete sich bis zu der Treppe vor. Sollte er doch glauben, was er wollte.
Angestrengt spähte sie durch den Spalt. Innen war alles dunkel, selbst bei Nel brannte kein Licht. Dafür ertasteten ihre Finger auf den Stufen der Treppe eine ganze Reihe Pergamente. »Oh, Daria war fleißig. Lass sie uns lesen, dann versuchen wir es nachher noch einmal.«
In der großen Höhle lasen sie Darias Botschaften. Nel hatte sich etwas beruhigt und aß auch wieder richtig. Es erleichterte sie, das zu hören. Chrysela war bei Alia gewesen. Statt ihr irgendeine heilsame Medizin zu geben, hatte sie zu mehr Enthaltsamkeit in Essen und Trinken geraten. Das war natürlich nicht das, was Alia hören wollte. Voller Zorn hatte sie Chrysela hinausgeworfen, nicht ohne den Befehl, das nächste Mal mit etwas Wirksamerem zurückzukommen.
›Sie hatte so schlechte Laune, dass sie uns bereits am frühen Nachmittag entlassen hat. Für uns war es der erste freie Nachmittag seit langer Zeit. Ich bin mit Nel im Palastgarten spazieren gegangen. Sie freute sich über den Schnee und hat zum ersten Mal gelacht.‹
Eine andere Botschaft stimmte sie nachdenklich: › Heute bekamen wir eine neue Magd. Sie ist erst acht Jahre alt, ein völlig verängstigtes, ausgemergeltes Mädchen. Unter Bridas Herrschaft halten es nicht viele aus, die älteren Mägde sehen zu, dass sie heiraten oder anderweitig unterkommen können. Die Kleine war nicht in der Lage, mich anzukleiden und uns zu dienen. Sie wusste nicht, was zu tun ist, aber zu Brida zurückschicken wollte ich sie auch nicht, das hätte für sie bestimmt Schläge gegeben. Also habe ich sie gefüttert, und stellt euch vor, Nel hat mir geholfen! Sie spricht immer noch nicht, aber ganz offensichtlich hat das Mädchen sie wachgerüttelt. ‹
»Oh, das klingt gut«, lächelte Leanna. Sie faltete das nächste Pergament auseinander. Kaum hatte sie die ersten Zeilen gelesen, verblasste ihr Lächeln. »Daria hatte das Gefühl, verfolgt zu werden. Sie wird nicht mehr allein im Palast umhergehen.« Sie schrak auf. »Ich will sie sehen. Lass es uns noch einmal versuchen.«
Diesmal hatten sie Glück. Daria hatte Nel zu Bett gebracht und saß nun auf ihrer Liege, bereit, sich für die Nacht herzurichten. Leanna beschloss sie anzurufen, bevor sie anfing, sich zu entkleiden. »Daria!«, zischte sie, nicht sicher, ob sie das hören würde.
Darias Hand, die eben die Chadra lösen wollte, hielt inne. Sie hob den Kopf. Leanna fand ihren Verdacht bestätigt, dass man die Geräusche aus den Gängen oben hören konnte. Sie beobachtete, wie Daria zu Nel hereinspähte und dann das Licht löschte. Leanna löste die Verriegelung der Geheimtür, sprang die Stufen hinauf und zog Daria zu sich hinab. Sie umarmten sich kurz und liefen bis in die sichere große Höhle, bevor sie sprachen.
»Oh, es tut gut, euch beide zu sehen! Habt ihr meine Botschaften gelesen?« Sie bedachte Rynan mit einem vorsichtigen Nicken, das er ernst und mit einer Verneigung erwiderte.
»Sagt, wer hat Euch verfolgt?«, fragte er.
Ihr Lächeln schwand. »Ich weiß es nicht. Es war gestern Nacht. Nel bekam Fieber, und ich wollte ihr einen Tee kommen lassen, fand aber keine Magd. Da bin ich selbst losgegangen.« Daria unterdrückte ein Schaudern. »Es war unheimlich, die Gänge so still und leer. Keine Wachen, keine Bediensteten, keine Boten.«
»Keine Wachen?« Leanna wunderte sich. »Zu Mutters Zeiten standen auch nachts überall Wachen, selbst als es schon die Tempelwachen waren. Das finde ich merkwürdig..«
»Ob er sie abkommandiert hat? Damit er sich frei bewegen kann?«, überlegte Rynan.
»Wen meinst du mit er ?«, fragte Daria verwundert. Sie erzählten ihr von Alias Liebhabern. Daria lauschte mit konzentriert gerunzelter Stirn. »Irgendwie wundert es mich nicht, dass sie welche hat, obwohl es das eigentlich sollte«, seufzte sie. »Zwischen dem König und Alia herrscht eine Eiseskälte, seit er wieder halbwegs genesen ist. Er ruft sie kaum noch zu sich. Sie lebt in ihrer eigenen Welt, so, wie deine Mutter damals auch, nur mit eben diesem gewissen Unterschied. Es wundert mich nicht, dass sie die Wachen nicht dort haben will.«
»Oh bitte, Daria, sei vorsichtig«, bat Leanna.
»Das bin ich, keine Sorge. Von Alia nehme ich nichts an, keine Speisen, keine Getränke, so, wie deine Mutter es getan hat. Sie war eine gute Lehrherrin in diesen Dingen«, sagte Daria traurig.
Rynan stieß Leanna an. »Wir haben noch etwas für dich«, sagte sie, und er hielt ihr den Beutel mit der Nuss hin.
Lange starrte Daria darauf, dann nahm sie den Beutel in die Hand und umschloss ihn fest. »Das ist meine Sicherheit. Ich danke euch.« Sie holte ein kleines, mit einem heiligen Baum verziertes Medaillon unter ihrem Kleid hervor, tat die Nuss hinein und drücke es an ihre Lippen. »Auf dass ich es nie mehr öffnen muss und dass es niemand findet. Wenn meine Mutter wüsste, wozu ich ihr Geschenk gebrauche.« Sorgsam steckte sie es fort. Ihre Freude über das Wiedersehen mit den beiden war verflogen und hatte der Sorge Platz gemacht. Auf einmal waren sie sich der Gefahr und der drängenden Zeit wieder bewusst. Daria umarmte Leanna zum Abschied und schenkte Rynan zum ersten Mal ein vorsichtiges Lächeln, das er mit einer leichten Verbeugung, es war ein Dank, erwiderte. Wie es schien, hatte sie ihm ihre Entführung verziehen und war gewillt, mit ihm Freundschaft zu schließen.
Ein paar Tage später brach Rynan zu seiner Mission zu dem Steinbruch auf. Er sagte Leanna absichtlich nichts, denn er wusste, dass sie kein Auge zutun würde, bis er nicht heil zurückgekehrt war. Eines Abends stand er aufgekratzt in dem kleinen Lagerraum, grinste breit bis über beide Ohren und lief, ohne Leanna ein Wort zu sagen, hinüber ins Heilerhaus. Sie wusste gleich, dass er dort gewesen war, und konnte ihm irgendwie nicht böse sein, ja, sie war sogar erleichtert, dass er ihr einige schlaflose Nächte erspart hatte.
»Nun sag schon!«, stieß sie ihn ungeduldig an, kaum dass er den ersten Löffel seiner üblichen Essensportion in den Mund geschoben hatte.
Rynan grinste mit vollem Mund, schluckte, und dann lachte er. »Ich habe eine Überraschung für euch.« Alle drei konnten ihre Erwartung kaum zügeln, und Rynan kostete es aus, nahm noch einen Löffel, sodass Leanna ihm diesen ungeduldig aus der Hand nahm. Grinsend holte er ein gerolltes Blatt Pergamentimitat hervor. Leanna wollte es sich schnappen, aber er zog es schnell zurück. »Ich war nicht nur einmal beim Steinbruch, sondern zweimal. Das zweite Mal allein«, berichtete er stolz und auch ein ganz klein wenig angeberisch.
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