Sie brauchten nicht lange zu warten. Nel rührte sich erneut, sodass Daria wieder hinauseilte. Rynan hatte sein warmes Halstuch abgebunden und Tavar in die Hand gedrückt. Er nickte Leanna zu. Leiser, als sie es erwartet hatten, glitt die Deckenplatte zurück und gab die Öffnung frei. Leanna wich unwillkürlich zurück, unbemerkt von den beiden Jungen, die sich lautlos nach oben schlichen. Die schützende Wand war fort. Es war etwas ganz anderes, als in den leeren Palast ihrer Mutter zurückzukehren. Hier lebten Menschen, und sie waren nur einen Hauch von einer Entdeckung entfernt.
Rynan und Tavar postierten sich zu beiden Seiten des Vorhanges. Sie konnten Daria flüstern hören. Tavar spähte durch den Spalt. Daria hatte Nels Kopf auf dem Schoß und hatte sie mit beiden Armen umfasst. Leise summend wiegte sie das Mädchen wie eine Mutter ein kleines Kind. Tavar konnte sehen, wie sehr sie dieser Abend angestrengt hatte, die Linien in ihrem Gesicht wirkten hart, aber nichts davon ließ sie Nel spüren. Er wusste bereits in diesem kurzen Augenblick, dass sie noch das Mädchen war, das er vor zwei Jahren auf der Fürstenversammlung kennengelernt hatte. Einen raschen Blick auf Rynan werfend, entdeckte er, dass dieser mit vor Konzentration geschlossenen Augen auf der anderen Seite des Vorhanges stand.
Tavar konnte nicht ahnen, wie es für Rynan war, das erste Mal in einem solchen Raum zu stehen. Er war sehr schlicht, kein Vergleich zu den Räumen Alias, aber dennoch.. wie es hier allein roch! Nach kostbaren Ölen, duftenden Kerzen, und der Stoff des Vorhanges, den er unter seinen Fingern spürte, das war wertvoller als das, was er seiner Familie in einem Jahr an Sold nach Hause brachte. Er hatte Mühe, nicht in Panik zu verfallen. Was tat er hier? Er war im Begriff, eines der höchstgestellten Mädchen im ganzen Königreich zu entführen. Wie war er da nur hineingeraten? Er hatte sich überrumpeln lassen von diesem Fürstensohn, der seine Zunge so schnell führte wie ein Schwert. Und Leanna.. der Gedanke ließ ihn wieder zu sich kommen. Er tat das für Leanna, für Phelan. Das Mädchen würde es verstehen.
Rynan atmete tief durch und nickte Tavar zu. Hinter dem Vorhang hörten sie ein Rascheln. Daria hatte Nel fest zugedeckt und kam nun mit leisen Schritten auf sie zu. Tavar fuhr zurück und presste sich an die Wand. Es verursachte ein leises Geräusch. Die Schritte hielten inne. Rynan biss sich auf die Lippen, um Tavar nicht lauthals zu verfluchen. Sie hörten Daria stoßartig einatmen, sie zögerte, dann teilte sie den Vorhang.
Rynan wartete nicht, bis sie ganz im Vorraum war, er packte zu, sobald er ihr Gesicht sehen konnte. Ihren Aufschrei erstickte er mit der Hand. »Keinen Laut! Ein Messer sitzt an Eurer Kehle. Rührt Euch ja nicht«, zischte er. Es war zwar nur einer seiner kalten Finger, aber das wusste sie ja nicht. Mitleidig spürte er, wie sie zu zittern begann, und nickte Tavar zu. Der band ihr rasch das Tuch über die Augen. Halb trugen, halb zerrten sie Daria durch den Raum und die Stufen hinunter und verursachten dabei kaum einen Laut. Nur ihre heftigen Atemstöße waren zu hören, als sie unten im Gang ankamen. Tavar schob erleichtert die Deckenplatte hinter ihnen zu. Rynan wurde ganz elend, als er sie weiter den Gang hinunterzerrte. Er konnte fühlen, dass sie am ganzen Leib wie erstarrt vor Furcht war. Wo war nur Leanna? Eigentlich hätte sie gleich hinter der Biegung auf sie warten müssen, aber dort war sie nicht. Nur ihre Fackel brannte ruhig, wo sie diese zurückgelassen hatten.
Rynan zwang Daria auf die Knie. Er spürte, dass sie bereits den ersten Schreck überwunden hatte und bereit war, sich mit allen Mitteln zu wehren. Sie mussten handeln, und zwar schnell. »Habt keine Angst, Euch wird nichts geschehen. Wir dürfen nur nicht zulassen, dass Ihr laut schreit. Habt Ihr verstanden?« Sie zuckte furchtsam vor seiner Stimme zurück, doch sein Griff war unerbittlich. »Nicht schreien. Wir nehmen Euch jetzt die Augenbinde..« Sie warf sie vorwärts, und beinahe wäre sie Rynan entglitten. Er packte sie fester. »Nimm ihre Füße!«, zischte er Tavar zu. Nur mit Mühe gelang es ihnen, die sich windende Daria zu bändigen. Sie zerrten sie weiter den Gang hinab, fort von allen Ausgängen und der Gefahr, dass man sie hörte, bis in die große Höhle.
Dort stießen sie endlich auf Leanna. Sie sprang auf. Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund, als sie sah, wie verbissen und mittlerweile auch weinend sich Daria gegen ihre Entführer wehrte. »Setzt sie ab! Macht schon!« Es war nur ein Flüstern, aber die Jungen gehorchten sofort.
Tavar schüttelte den Kopf, als sich Leanna vor Daria knien wollte. ›Lass mich das machen‹, bedeutete er ihr. Sie trat hinter Rynan, damit Daria sie nicht sah. Tavar holte sich die Fackel, damit genug Licht auf sein Gesicht fiel, und nahm Daria die Augenbinde ab. Furchtsam zuckte sie zurück, und es dauerte eine Weile, bis sie durch den Schleier ihrer Tränen etwas sah, doch dann weiteten sich ihre Augen, und sie hörte auf, an Rynans Armen zu zerren. »Hmmm?!« Rynans Hand erstickte ihren Ausruf.
Tavar lächelte sie beruhigend an. »Ich bin es, ja, du siehst richtig. Bitte schreie nicht, dann lassen wir dich sofort los. Einverstanden?« Daria nickte schwer amtend. Er bedeute Rynan, sie loszulassen.
Sofort befreite sich Daria mit einem Ruck. Sie starrte auf den vor ihr hockenden Tavar, der breit grinste. »Bist du es wirklich? Es hieß, du seiest tot!« Sie streckte ungläubig die Hände aus.
Tavar ergriff sie. »Ja, Alia hat mich nicht bekommen. Es tut mir leid, dass wir dich so hierherzerren mussten, aber anders konnten wir es nicht erreichen, ohne dass du den ganzen Palast zusammengeschrien hättest. Daria, was ist denn?«
Ihre Miene hatte sich verzerrt. »Oh Tavar!« Sie umarmte ihn einfach und brach in Tränen aus. Es war wohl mehr der Schreck über ihre gewaltsame Entführung als die Erleichterung, ihn lebend zu sehen, der sie das tun ließ.
Sichtlich verlegen tätschelte Tavar ihr den Rücken. »Ist ja gut. Es tut uns leid, dass wir dich so erschreckt haben.«
»Wir?« Noch ganz verwirrt richtete Daria sich wieder auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
Tavar lächelte ihr aufmunternd zu. »Ja, wir. Dreh dich mal um.«
Daria tat es langsam. Als Erstes fiel ihr Blick auf die hohe Gestalt eines jungen Mannes in der Kleidung eines einfachen Heeressoldaten, der sie verlegen ansah, und dann entdeckte sie eine weitere kleine Gestalt, die sich langsam aus dem Dunkel schälte. »Leanna..« Ihre Augen weiteten sich. Daria kam auf die Füße und machte einen ungläubigen Schritt auf sie zu. »Leanna.. oh, bist du das wirklich?« Sie umarmten sich, und Daria lachte und musste schon wieder die Tränen zurückhalten. »Was tust du hier? Und wie..« Daria ließ sie nach einer halben Ewigkeit wieder los und lächelte sie verweint an. »Oh, du hast dich als Junge verkleidet. Deine Haare..«
»Das erzählen wir dir gleich«, sagte Leanna. »Ist dir nicht kalt?«
Daria sah verwundert an sich herunter und bemerkte mit einem Mal, dass sie hier mit bloßen Füßen und nur in einem dünnen Nachtgewand stand, noch dazu vor zwei Fremden. Hastig raffte sie den Halsausschnitt fester um sich und wünschte, sie hätte ein Tuch, um ihre Haare zu bedecken.
Da bekam sie von dem jungen Soldaten seinen Umhang gereicht. »Hier, nehmt ihn, Euch muss kalt sein. Mein Name ist Rynan. Verzeiht bitte, dass wir Euch so gewaltsam hierherzerren mussten, aber wir durften nicht riskieren, gehört zu werden.«
»Ihr seid Phelans Freund aus der Heerschule? Das hätte Euch normalerweise den Kopf gekostet«, erwiderte sie kühl und sah, wie der junge Mann hastig den Blick senkte. Sofort tat es ihr leid. Vermutlich war das nicht einmal seine Idee gewesen, sondern Tavars, so zufrieden, wie der grinste. Dankbar schlang sie den warmen Umhang um ihre Schultern und zog die Kapuze über ihre Haare.
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