»Meine Cousine Althea«, sagte Leanna und trat zu ihm.
Tavar sah auf. Sie wirkte traurig. »Warum bist du nicht mit ihnen gegangen? Hier ist es doch viel gefährlicher für dich.«
Sie seufzte und sah auf das Pergament herab. »Das haben mich alle schon gefragt. Currann wollte es nicht, Fürst Bajan wollte es auch nicht, aber ich.. versteh doch, ich musste bleiben, in Mutters und Lelias Nähe. An meiner statt ist Noemi mit ihnen gegangen, sie ist eine Freundin von Phelan und Althea, eine Waise, die sonst niemanden hat. Ich bin unter ihrem Namen bei Meda geblieben, und bisher hat es mich gut geschützt. Aber sieh dir den Plan an. Fällt dir etwas auf?«
»Was meinst du..?« Tavar verfolgte die Linien weiter und landete bei einigen Namen, deren Anblick ihm einen erstaunten Ausruf entlockte. »Der Tempel? Alia? Der König! Und.. der Gästetrakt!? Daher wisst ihr das also alles? Ihr belauscht sie?« Er sah flüchtig zu Rynan, der sie regungslos beobachtete. »Daher weißt du all diese Sachen?«
Rynans Miene verdüsterte sich, doch dann nickte er. Der Fürstensohn hielt wohl nicht viel von seinen Fähigkeiten, das hörte er deutlich heraus.
Tavar ging mit einem Mal ein Licht auf. »Du kennst mich nicht von dem Lager her, sondern von hier. Ihr habt uns belauscht! Wart ihr auch bei der Hochzeit hier? Und habt ihr miterlebt, wie die Fürsten auf mich losgegangen sind?«
»Jaahh, haben wir«, grinste Rynan und rächte sich damit für Tavars herablassende Worte. »Dein Vater brüllte so laut, dass man es fast bis hier unten hören konnte. Sie hätten euer Quartier gar nicht nach verborgenen Lauschposten absuchen brauchen, er war laut genug, dass sie es vermutlich alle im Palast gehört haben und..«
»Hört auf damit, alle beide!«, unterbrach Leanna sie scharf. »Wir haben keine Zeit, uns gegenseitig zu verspotten.«
»Nein. Es tut mir leid«, sagte Tavar in Rynans Richtung. Der nickte nur und sagte nichts.
»Hör zu, Tavar, du hast gesagt, dass du uns helfen willst«, erinnerte Leanna ihn und erzählte ihm Nels Geschichte, vom Tod ihrer Mutter, wie sie Leanna im Heilerhaus gefunden hatte und in welchem Zustand sie danach war. »Rynans Schwester Lina hat sich die letzten beiden Jahre um sie gekümmert. Meda hat sie dem Ratsherrn Nestan als Magd untergemogelt, in der Hoffnung, dass sie durch die Gesellschaft einer Freundin gesund wird und begreift, dass sie uns nicht verraten darf. Sie hat es fast geschafft, Nel war dabei, sich ihr zu öffnen, aber in letzter Zeit hat Nestan immer mehr die Geduld mit ihr verloren.«
»Was meinst du damit, die Geduld mit ihr verloren? Sie ist doch sehr krank?«, fragte Tavar.
»Lina sagt, dass Nestan denkt, sie sei nur verstockt. Dass sie ihm böse ist und sich an ihm rächen will, weil sie ihm die Schuld am Tod ihrer Mutter gibt und daran, dass ihr Bruder Sinan fliehen musste und nun als Verbrecher gilt. Mit Letzterem hätte sie nicht unrecht, aber die Mutter starb durch einen Unfall, einen schrecklichen Unfall«, erklärte Rynan. Er legte den Groll gegenüber Tavar vorerst ab und kam zu ihnen herüber. »Gestern Morgen hat Nestan seine Schwester samt all ihrer Sachen in eine Sänfte gesteckt und sie fortgebracht. Wir wissen nicht, wohin, auch die Mägde in Nestans Haus wissen es nicht, aber wir vermuten, dass er sie hierher gebracht hat, in die Festung.«
»Denn was könnte dem edlen Ratsherrn besser anstehen, als dass seine Schwester Alias Zofe wird?«, fügte Leanna bitter hinzu. »Wir müssen sie finden, bevor sie sich vergisst und etwas ausplaudert. Dann ist alles in Gefahr.«
Tavar sah von einem zum anderen. »Haltet ihr sie für so krank? Das klingt beinahe, als sei sie gestört!«
»Nenn sie nicht gestört!«, fuhr Leanna ihn an und biss sich sofort auf die Lippen. »Sie ist ver stört, das ist ein großer Unterschied. Ich denke, wenn man sie erreicht und ihr sagt, dass ihr Bruder Sinan lebt, dann wird es ihr besser gehen. Aber dazu müssen wir sie erst einmal finden. Wie sollen wir das nur anstellen?« Mutlos ließ sich Leanna auf die steinerne Schlafstatt nieder. Beide Jungen folgten ihr und ließen sich neben ihr nieder, jeder an einer Seite. Sofort fühlte sich Leanna von ihrer Gegenwart getröstet.
Tavar überlegte. »Ihr bräuchtet jemanden, der in der Festung nach ihr sucht. Ihr selbst dürft das auf keinen Fall! Das ist dir doch klar, Leanna?«
»Aber wen? Es gibt niemanden«, sagte sie hoffnungslos.
Rynan ergriff ihre Hand. »Lass uns erst einmal sehen, ob wir nicht so etwas erfahren können. Wir haben ja noch nicht einmal angefangen zu suchen, einverstanden?«, tröstete er sie und zog sie hoch.
Tavar folgte ihnen eine weitere lange Treppe hinauf. Er lernte die Wesen in der großen Höhle kennen, bestaunte sie und erfuhr, wie man sie verjagte. »Diese Höhle liegt unter dem Platz vor der großen Halle«, erklärte Leanna und zeigte auf zwei dunkle Schatten am anderen Ende. »Der Gang dort führt einmal um die Fundamente der Halle herum und hat verschiedene Abzweigungen, die alle zu weiteren Ausgängen im Palast und im Kloster führen. Rynan, was meinst du, wollen wir im Kloster anfangen?«
»Ich glaube zwar nicht, dass sie dort ist, aber sicher ist sicher.« Wieder übernahm Rynan die Führung, und sie bogen in den linken Gang ein. Er behielt recht. Der Tempel lag im Dunkeln, und auch im Innenhof des Klosters war niemand zu sehen. Sie brauchten sich gar nicht bis zu den kurzen Treppen an den Ausgängen vortasten, sondern kehrten gleich wieder um, weil sie sich der drängenden Zeit sehr bewusst waren.
»Ich würde sagen, wir versuchen es als Nächstes in Alias neuen Gemächern. Das ist der ehemalige Gästetrakt«, erklärte Rynan Tavar, als er sie an einer weiteren Reihe Öffnungen vorbeiführte, bis er in eine bestimmte einbog. Wie auch schon zuvor ließ er die Fackel im Gang liegen.
Tavar lief neugierig voraus. Bisher hatte er noch nicht viel erkennen können und fand sich zu seinem Erstaunen vor einer kurzen Treppe wieder. Es fiel ein schmaler Lichtstreifen in den Gang. Mehr als neugierig spähte er durch den Spalt und prallte sofort zurück. »Oh verflucht!«, wisperte er und wäre beinahe die Treppe wieder heruntergerutscht. Unmittelbar vor ihm saß Alia, und um sie herum ihre Zofen: Leannas Zwillingsschwester Lelia, Daria, an die er sich noch gut von der Fürstenvereidigung her erinnern konnte, und ein drittes Mädchen, das er nicht mit Namen kannte. Rynan und Leanna waren sofort neben ihm. »Ihr habt uns ja wirklich ausgezeichnet sehen können«, flüsterte Tavar Leanna zu.
Sie sagte nichts, sondern ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, und plötzlich sah sie, was sie erhofft hatte. »Da, das ist Nel!«, zischte sie und deutete auf ein dünnes, blasses Mädchen, das bisher verdeckt zwischen Lelia und Daria gesessen hatte.
Lelia war aufgestanden. »Dürfen wir uns zurückziehen, Mutter?«
Tavar spürte, wie Leanna neben ihm zusammenzuckte. Er traute sich nicht, sie zu berühren, aber am liebsten hätte er ihr tröstend den Arm um die Schultern gelegt. Wie musste sie das schmerzen!
Alia gab ungehalten ihr Einverständnis. »Nun gut, dann geht, aber morgen werdet ihr die volle Zeit hierbleiben, verstanden?«
»Ja, Hoheit.« Die Mädchen erhoben sich und knicksten, nur Nel blieb sitzen und wurde von Daria sanft hochgezogen und aus dem Raum geführt. Kaum waren sie hinaus, ließ Alia die kalte Maske der Gleichgültigkeit fallen. Voller Unmut, beinahe Hass starrte sie den Mädchen hinterher, dann erhob sie sich und lief dicht an ihrem Lauschposten vorbei. Sie hörten, wie ein schwerer Riegel vor die Tür gelegt wurde.
»Ob er..«, setzte Rynan flüsternd an, »oh, da ist er schon.«
Tavar sah, wie sich ein Schatten aus dem Durchgang zu den hinteren Räumen schälte. »Endlich! Ich dachte schon, du lässt sie gar nicht mehr gehen, oh meine Königin!« Die schnarrende Stimme des Fremden troff vor Hohn.
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