»Und jetzt werden wir gehen«, flüsterte Leanna und zog Rynan energisch von der Treppe fort. »Tavar! Du auch!«
»Ach! Aber du darfst bei Alia..«, hob er an und erntete einen unsanften Stoß.
»Das ist etwas ganz anderes«, zischte Leanna erbost. »Daria ist auf Mutters Seiten, nicht auf Alias, das weißt du doch ganz genau. Sie ist ein ehrenvolles Mädchen, es steht euch nicht an, sie zu beobachten, schon gar nicht, wenn sie sich auskleidet. Wir wissen jetzt, wo Nel ist und dass sich jemand um sie kümmert. Das ist doch schon etwas, oder nicht? Kommt jetzt, wir müssen zurück.« Sie wollte sich abwenden, aber Tavar hielt sie fest.
»Du willst jetzt einfach so fort? Rynan, sag doch was!«
»Was soll ich denn..?« Rynan schaute ihn verdutzt über seine Fackel hinweg an.
Tavar verdrehte die Augen. »Ja, begreift ihr denn nicht? Das ist die Gelegenheit für euch!«
»Was meinst du.. oh nein! Du willst doch wohl nicht etwa mit Daria Verbindung aufnehmen?«, flüsterte Leanna. Sie bekam einen mächtigen Schrecken. »Was ist, wenn uns jemand sieht oder hört?«
Tavar musste ihr recht geben, aber er hatte schon weiter gedacht. »Wir warten, bis sie sich hingelegt und das Licht gelöscht hat und eingeschlafen ist. Dann öffnen wir die Tür. Sie geht doch recht lautlos auf, nicht wahr, Leanna?«
»Du willst sie hier herunterholen!?«, rief Leanna entsetzt.
»Pst, nicht so laut!«, zischten die beiden anderen wie aus einem Munde.
Sie ignorierte es. »Das ist nicht dein Ernst! Es ist viel zu gefährlich, und außerdem wissen wir doch gar nicht..«
»Doch, ich weiß es, ich habe sie schließlich kennengelernt. Sie liebt einen von Curranns Kameraden und würde alles für ihn tun«, sagte Tavar und sah Leanna beschwörend an. »Verstehst du nicht? Das ist vielleicht die einzige Gelegenheit, mit jemandem in der Festung Verbindung aufzunehmen, und wer böte sich da besser an als sie? Leanna..«
»Ich.. ich weiß nicht.« Sie zögerte. Bisher waren sie kaum Risiken eingegangen, sah man davon ab, dass sie jedes Mal nachts durch die Stadt liefen. »Sie hatte eine Vorliebe für Sinan, Nels Bruder, aber ob das richtige Liebe war..« Leanna wusste es nicht zu sagen. Woher auch?
»Sie trauerte aufrichtig um ihn. Willst du denn nicht, dass sie zu uns gehört?«, fragte Tavar.
Leanna sah zur Seite. Sie rang mit sich. »Doch, schon. Aber was ist, wenn man uns hört? Oder sie schreit?«
»Wir müssen ihr ganz schnell den Mund zu halten und sie herunterzerren oder sie zwingen, ruhig zu sein«, sagte Tavar, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.
Ungläubig starrten die beiden anderen ihn an. »Aber Tavar, doch nicht mit Gewalt..«
»Hat Nadim bei mir auch gemacht, bevor ich zu viel Lärm machen und ihn verraten konnte.« Tavar tat, als sei es nichts gewesen, aber er konnte Leanna nicht täuschen. Sie kniff die Augen zusammen, und er musste dann doch zugeben: »Naja, zuerst ist der Schreck groß, aber der wird ihr doch vergehen, wenn sie dich sieht, nicht wahr?« Er zwinkerte ihr vertraulich zu.
Sie ließ sich das nicht gefallen und trat mit entschlossener Miene einen Schritt zurück. Diese Vertraulichkeit ging ihr entschieden zu weit. »Aber was ist, wenn auch sie sich verändert hat?«, fragte sie scharf. »So wie viele andere? Was, wenn …«
»So sah mir das aber nicht aus«, wandte Tavar voller Überzeugung ein. »Sie schien Nestan nicht zu mögen, hat ihm sogar widersprochen. Das wagt in der Stadt niemand mehr. Wenn auch sie verändert wäre, dann hätte sie sich nie so um die Kleine gekümmert.«
»Du kennst sie doch gar nicht richtig..«, erwidert Leanna.
»Doch, das tue ich, dafür habe ich mich lange genug mit ihr unterhalten.« Leanna schnaubte nur. Tavar griff zu einer List. Er drehte ihr Argument einfach um: »Du hast recht, wir müssen herausfinden, wo sie steht, und das können wir nur hier. Was meint ihr, ist die Neuigkeit über meinen Tod bereits in der Festung angelangt? Wie sie wohl reagieren wird, wenn sie mich sieht?«
»Also, ich weiß nicht..« Leanna zögerte immer noch. Ihr schnürte sich die Kehle zu, als sie an die vielen Gefahren dachte.
»Rynan, du bist Soldat, du musst doch wissen, wie man so etwas macht«, forderte Tavar.
»Wie man junge Frauen entführt? Nein, nicht wirklich.« Bisher hatte Rynan stumm ihrem Wortgefecht zugehört. Er wusste, dass es gefährlich war, was sie planten, aber andererseits wollte er auch nicht vor Tavar zurückstecken.
»Ich meinte, du weißt doch, wie man jemanden überwältigt, oder?«, setzte Tavar nach.
Rynan schluckte. »Das schon, aber ich kann doch nicht.. ich meine.. sie ist doch eine hochgestellte junge Frau, und wir dürfen nicht..«
Tavar verdrehte die Augen. »Wie denn sonst? Sag es mir!« Rynan konnte nur die Schultern heben. Ihm fiel kein Argument ein, außer dass es zu gefährlich war. »Als ich Meda zuhörte, hatte ich das Gefühl, dass ihr in einer Sackgasse angelangt seid«, setzte ihnen Tavar weiter zu. »Irgendwie.. geht es bei euch nicht voran. Alle bleiben in Deckung und versuchen zu überleben. Aber das reicht nicht. Leanna, es reicht doch nicht.«
»Nein.« Leanna sah auf. Ihr Gesicht wirkte hart. »Nein, es reicht nicht. Wir müssen mehr tun. Aber Tavar, wenn wir Daria hier herunterholen und wir feststellen, dass sie verändert ist, dann ist dir doch klar, worauf das hinausführt?« Sie dachte an Nadim. Der hatte es ihr und Rynan bereits einmal leibhaftig gezeigt.
»Was meinst..?«
»Dann muss sie sterben, und zwar von unserer Hand«, sagte Rynan und sah ihn verächtlich an. »Das hast du bei deinem tollen Plan nicht bedacht, nicht wahr? Was denkst du denn, was wir hier tun? Wir schützen Leanna und ihre Geschwister. Jeder, der zur Gefahr für sie wird, muss sterben!«
Tavar senkte den Kopf, mit einem Mal beschämt. Er hatte gedacht, er könne vor Leanna mit seinen tollen Einfällen glänzen, und hatte dabei übersehen, dass es tödlicher Ernst war. Er spielte mit ihrem Leben. »Verzeih mir«, bat er kleinlaut. »Nein, ihr habt recht. Es ist zu gefährlich..«
»Ach, jetzt, wo du selbst unangenehme Folgen auf dich nehmen musst, steckst du zurück?« Leanna blitzte ihn verächtlich an und registrierte mit einiger Genugtuung, wie er die Schultern einzog. »Nein, wir werden es trotzdem versuchen«, entschied sie. Sie sah beide zwingend an. »Daria ist die Einzige, die auf Nel aufpassen und dafür sorgen kann, dass sie nichts Unbedachtes sagt. Wir müssen es wagen. Rynan, glaubst du, dass du das schaffen wirst?«
Er verzog das Gesicht. »Jaahh, ich denke schon. Ihr müsst mir helfen. Wir dürfen kein Geräusch machen.«
Sehr zögerlich kehrten sie in den kleinen Gang zurück und stiegen wieder die Treppe hinauf. Sie wussten immer noch nicht, wie sie das beginnen sollten. In dem Raum über ihnen herrschte Dämmerlicht. Durch den Vorhang fiel ein Streifen Licht herein, sodass es nicht ganz dunkel war. Offensichtlich hatte Daria für Nel ein Licht brennen lassen, damit sie sich nicht so fürchtete. Rynan presste sich an die äußerste Ecke der Treppe, sodass er Darias Liege sehen konnte. Er nickte ihnen zu. Sie lag darauf und schien zu schlafen.
Leanna überlegte fieberhaft. Die Geheimtür befand sich unmittelbar neben Darias Kopf. Jedes Geräusch würde sie sofort hören. Doch dann kam ihnen ungewollt ihre Sorgenfreundin zu Hilfe. Nel begann sich herumzuwerfen und stieß wimmernde Laute aus. Mit einem Satz war Daria von ihrer Liege herunter und nach nebenan geeilt. Leanna überlegte nicht. Sie löste die Verriegelung der Geheimtür. Das Klacken klang in ihren Ohren unheimlich laut, aber Daria hatte es bestimmt nicht gehört. Gerade als sie die Griffmulden packen wollte, verstummten die Geräusche aus dem Raum nebenan. Daria kam zurück. Sie verharrte eine Weile lauschend an dem Vorhang, seufzte schließlich und legte sich wieder hin. Die drei in ihrem Versteck hielten den Atem an. Konnten sie es wagen, die Tür zu öffnen? Rynan packte Leannas Hand und zog sie zurück. Lieber nicht.
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