Tavar spannte sich an. Waren sie jetzt angekommen? Draußen hörte er ein lautes Poltern. Dann geschah wieder lange Zeit gar nichts. Die Beklemmung wuchs. Was, wenn sie ihn vergaßen? Er wollte sich rühren und den Deckel fort stoßen, um endlich frische Luft zu bekommen, und tat es doch nicht. ›Komm schon, du Feigling, fang bloß nicht an, um Hilfe zu rufen!‹, schalt er sich und hätte es doch am liebsten getan. Im selben Moment klopfte jemand von außen gegen sein Gefängnis. Er zuckte zusammen. Waren das die Wachen? Oder Verbündete? Er verhielt sich völlig still, bereit, sich wie auch immer zu verteidigen.
Jemand machte sich an dem Deckel zuschaffen. »Nun hilf mir schon, ich bekomme ihn nicht auf!«, rief eine hohe Stimme.
Tavar atmete erleichtert auf. Mit der Faust schlug er zwei-dreimal gegen den Deckel und fand sich gleich darauf dem schemenhaften Umriss eines Jungen gegenüber. »Puh!«, machte er und versuchte aufzustehen. Es gelang ihm nicht, seine Beine waren vollkommen taub.
»Soll ich dir helfen?«, fragte der Junge.
»Ja, bitte! Ich spüre meine Beine nicht mehr.« Tavar streckte ihm seine freie Hand entgegen.
Der Junge zog ein wenig, bekam ihn aber nicht hoch. »Ich kann dich so nicht herausziehen. Lass uns die Amphore umkippen. Die Körner müssen wir eh umfüllen.«
Wenige Momente später kroch Tavar mehr schlecht als recht aus der Amphore hervor und zog einen Schwall Körner hinter sich her, die sich über den ganzen Boden verstreuten. »Herrje! Tut mir leid, das mache ich gleich weg und.. was hast du?« Auf dem Boden sitzend sah er zu dem Jungen auf, der ihn aus weiten Augen anstarrte. Erst jetzt konnte er sein Gesicht im schwachen Licht einer auf dem Boden stehenden Laterne erkennen. Es kam ihm seltsam bekannt vor.
»Du.. du bist..«
Tavar zuckte zusammen. Er hatte nicht aufgepasst und vergessen, seine Kapuze aufzusetzen. »Ich bin Tajaeh, und wie heißt du?«
»Tajaeh?!« Der Junge schüttelte ungläubig den Kopf.
Tavar überlegte immer noch, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte, und holte Luft, um seinen Schnitzer wieder gutzumachen, doch er kam nicht weit. Seine Beine fingen an zu kribbeln, und plötzlich kribbelte und juckte es an seinem ganzen Körper.
»Aaahh.. verdammt! Hilf mir mal!« Wackelig kam er auf die Füße. Überall purzelten die Körner aus seiner Kleidung, und leider rutschten auch einige von ihnen tiefer hinein. Es juckte ihn gar scheußlich. »Halt das bitte!« Er riss sich den warmen Fellumhang herunter und drückte ihn dem verdutzten Jungen in die Arme. Mit schmerzhaft kribbelnden Beinen entledigte er sich seiner Stiefel, dann folgte die warme Obertunika, die Beinlinge, die dünnere Untertunika, und als er den Lendenschutz abwickelte und ihn ausschüttelte, wurde die Tür aufgerissen:
»Tavar, bist du..«
»Bei allen Heiligen!« Der zweite Ausruf stammte von einer Frau, genauer gesagt einer Heilerin, die sich in ihrem blauen Habit hinter Nadim in den Raum schob.
Hastig riss Tavar dem Jungen seine Kleidung aus den Armen und bedeckte sich damit notdürftig. »Verzeihung..« Er verneigte sich ehrerbietig in Richtung der Heilerin, wurde jedoch abgelenkt von dem Jungen, der sich eilends an ihm vorbeidrängte und verschwand.
»Na, das hast du ja fabelhaft hinbekommen!«, brummte Nadim ärgerlich. »Los, zieh dich an! Wir müssen ins Haus.« Erst jetzt bemerkte Tavar, dass sie offensichtlich in einer Art Lageraum waren.
»Ich denke, die Vorstellung verschieben wir auf später«, meinte die Heilerin, deren Augen belustigt schimmerten. Sie lachte, das konnte Tavar trotz des Schleiers gut sehen. Er wurde rot und senkte hastig den Kopf.
»Nun mach schon!«, zischte Nadim und versetzte ihm einen Stoß, der seine Kleidung samt aller restlichen Körner auf den Boden schickte. Tavar schlug ärgerlich Nadims Hand weg, schüttelte alles in aller Ruhe aus und zog sich wieder an. »Bist du endlich fertig?«
»Ja doch! Wo sind wir hier? In den Häusern der hl. Asklepia?«
»Nein, im Stadthaus der Heilerinnen«, sagte Nadim leise, als sie durch die Tür in den Innenhof traten. Tavar duckte sich instinktiv und sah schnell zu den hohen Mauern auf. Konnte man den Hof von außen einsehen? Man konnte nicht. Das Tor zur Straße war geschlossen, es war bis auf die allgegenwärtigen Signalfeuer dunkel und still in der Stadt. Erleichtert folgte er Nadim ins Haus.
Die Heilerin erwartete sie in einem Raum, der offensichtlich zum Essen und Arbeiten gleichermaßen diente. Bei ihr saß eine ältere, unverschleierte Heilerin, die bei ihrem Erscheinen freudestrahlend aufstand und ihnen entgegen kam. »Nadim, endlich! Wir hatten uns solche Sorgen gemacht! Ich hoffe, es geht Euch gut? Oh, was ist mit Eurer Hand?«
»Nichts Ernstes, Netis, nichts Ernstes. Vielleicht wollt Ihr sie bei Gelegenheit einmal ansehen? Ich hoffe, hier sind alle wohlauf?«
»Oh ja, wir tun unser Bestes.« Ihr Lächeln schwand, und sie sah Tavar an. »Und du, junger Mann, bist wer?«
»Ich bin Ta..«
»Das ist Tavar, der Sohn von Fürst Tanaar!«, wurde er im Ansatz unterbrochen. Tavar fuhr herum und wich überrascht zurück. Der Junge stand mit verschränkten Armen direkt hinter ihm und funkelte ihn böse aus seinen tiefschwarzen Augen an, aber wie sah er aus? Er trug ja das Habit einer Heilerin!
»Ja, das wissen wir. Wir haben dich bei der Fürstenvereidigung gesehen«, sagte Meda und hoffte, dass ihre Stimme ruhig klang. Dabei hatte sie den Schreck ihres Lebens bekommen, weil sie im ersten Moment dachte, sie stünde seinem Onkel Tajaeh gegenüber, jenem Mann, der ihr einst so übel mitgespielt hatte. Wie ähnlich war der Junge seinem Onkel mit zunehmendem Alter geworden! Doch Tavar reagierte nicht auf ihre Worte, er starrte immer noch den Jungen an.
»Tavar, das ist Leanna, und das dort hinten ist Meda, die Vorsteherin dieses Hauses.« Nadim stieß ihn warnend an.
»Leanna..«, ächzte Tavar. Jetzt wusste er, warum ihm das Gesicht so bekannt vorkam. Er war ihrer Zwillingsschwester vor Jahren bei der Fürstenvereidigung begegnet. Ihm wurde so heiß, als hätte ihm jemand eine Fackel in den Nacken gerammt. Am liebsten wäre er vor Scham im Boden versunken.
»Sehe ich meiner Schwester denn nicht ähnlich?«, schnappte sie immer noch böse.
»Doch..«, schluckte Tavar. Er fing einen warnenden Blick von Nadim auf und besann sich mühevoll auf seine Manieren. Er verneigte sich vor Meda und Netis. »Tavar von Nador. Ich grüße Euch.«
Die Frauen konnten nicht anders, sie mussten einfach lachen, derart betreten schaute er drein. Meda schlug ihren Schleier zurück und enthüllte ein überraschend junges Antlitz mit ebenso kurzen Haaren wie Leanna. »Sei uns willkommen, Tavar von Nador. Sicherlich hast du einiges zu berichten, aber«, sie hob die Hand, weil Tavar etwas sagen wollte, »dafür ist jetzt keine Zeit. Die anderen Schwestern werden bald hier sein. Ihr müsst Euch verbergen. Kommt, ich richte Euch eine Kammer her.«
Sie führte den widerstrebenden Tavar hinaus und auf die Treppe zu, sodass er keine Gelegenheit mehr hatte, etwas zu Leanna zu sagen, was wohl auch besser so war. Worte der Entschuldigung wären jetzt nur allzu unzulänglich aus ihm herausgekommen. Was er getan hatte, war unverzeihlich gewesen, und hätte er ein wenig genauer hingesehen, er hätte sie erkennen können. Die Tochter des Königs! Und er zog sich vor ihr aus!
»Junge, Junge, das war das größte Fettnäpfchen, in das je ein Mensch getreten ist«, brummte Nadim, der immer noch leise in sich hineinlachte. Tavar schrak auf und fand sich mit ihm in einer kleinen Kammer wieder, in der eine Liege, ein Tisch und ein kleiner Schemel standen. Ansonsten war sie leer.
Meda kam mit ein paar Decken über dem Arm hinter ihnen her. »Du musst leider mit dem Fußboden vorliebnehmen, Tavar, alle anderen Räume werden gebraucht. Netis wird euch gleich etwas zu essen und zu trinken bringen, und dann werden wir euch einschließen. Verhaltet euch absolut still, niemand darf wissen, dass ihr hier seid. Und Tavar?«
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