„Und Bergner noch dazu.“ Beide prusten los vor Lachen. Zu witzig die Vorstellung. Und der schönste Teil der Geschichte kommt erst noch, der mit Bergner, dem berühmten Arnold Bergner, mit Gottes Gnade Leos künftigem Chef.
„Tritt Bergner plötzlich in Nowaks Zimmer. Entschuldigt sich, dass er nicht früher kommen konnte. Sieht toll aus. Wirklich wie im Fernsehen und in den Illustrierten. Anfang fünfzig, schlank, Nadelstreifenanzug, Fliege, recht charmant. Setzt sich auf den freien Sessel und übernimmt das Gespräch. Ob ich mich in Indien auskenne. Ob ich gar Marathi spreche. Ich antworte: Sorry, Sir, not fluently. But don’t they speak English in India? Er lacht, dann geht‘s auf Englisch weiter. Nowak verstummt, versteht wohl Bahnhof, Bergner und ich uns dagegen sofort. Kam mir zumindest so vor. Nach anderthalb Stunden war ich wieder draußen. Handschlag. Freundliches Lächeln. Ich bekäme bald Nachricht.“
Manche Märchen sind so, dass man sie immer wieder erzählt haben möchte.
Unterdessen geht vor Florians undichtem Fenster der Abend in die Nacht über. Während irgendwo in der Stadt der „Revolutionäre 1. Mai“ tobt, Flaschen in Laternen , Pflastersteine in Schaufenster einschlagen, während es draußen und drinnen brennt, während Sirenen kreischen und Blaulicht kreist, während Polizisten mal diese, mal jene Straße abriegeln, die Autowracks nicht ohnehin schon sperren, während Augen feucht werden von Tequila oder Tränengas, während manche Cocktails werfen, manche Cocktails mixen, während ein Hupkonvoi die Karl-Marx-Straße herauffährt und Kinder sie bettelnd und Pfandflaschen sammelnd hinabstreifen, während des üblichen Wahnwitzes dieser Stadt also liegen Florian und Leonore beieinander und hegen glückliche Gedanken. Man trinkt verdünnten Wein, man küsst sich, man lässt den Herrgott einen guten Mann sein und Bernstein, Böhm und Barenboim so gute Dirigenten, wie sie der alte Plattenspieler noch eben hergibt.
Es dämmert schon, als sie ins Bett fallen, unmüde, erregt, abgespannt, ausgelaugt. Florian tastet zittrig nach dem Nachttisch, als leider, leider Leo noch der Anruf einfällt, der von Ali, als Florian noch auf dem Bahnhof schlief. Er möge morgen bei ihm vorbeikommen. Dringend! Weshalb? Wollte er nicht sagen. Typisch Ali. Florian will sich nicht eingestehen, dass er sich über dieses Gebaren ärgert, aber was hilft’s: Seine Erregung nimmt eine andere Richtung. Die Lust ist raus. Die Handschellen bleiben in Flos Nachttisch, das Kondom in Leos Schublade.
Erster Augenaufschlag des Tages. Verschwommene neun Uhr erkennt Florian auf dem Wecker. Die Matratze neben ihm: leer. Das Zimmer ist dunkel, immer, auch bei hellichtem Tage, der Brandwand wenige Meter gegenüber geschuldet, die der Sonne den Zutritt verwehrt. Hinzu kommt diesmal, soweit erkennbar, eine Wolkenhaube, metallicgrau gespritzt, wie am Ende einer Karosseriereparatur.
We don’t need another hero. Von Weitem, aus der Küche, tönt Tina Turner. Florian reckt seinen Körper auf die zuletzt bei ihm gemessenen ein Meter neunzig. Dann die Hand vor den Mund zu einem vorletzten Gähnen.
Leonore und Tina Turner nunmehr im Duett, eine temperamentvoller als die andere: And I wonder when we are ever gonna change living under the fear. Florians Arme rutschen in den Morgenmantel, er bindet den Frotteegürtel zur Schleife und zieht die Schlaufen exakt gleichmäßig lang.
Rein in die Latschen, ab in die Küche. Beim Vorbeigehen ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, zur Couch. Klar doch, das Bild hängt wieder schief. „Luther verbrennt die päpstliche Bulle“, ein Farbdruck, Schnäppchen vom Flohmarkt. Seit damals steht über dem Sofa hängend der Titan vor Wittenbergs Elstertor und hält das Papier des Papstes hoch in den Himmel, zu seinen Füßen ein Feuerchen, um sich herum Kollegen, Studenten, Neugierige. Gleich fliegt die Bulle in die Flamme. Barbecue 1520 – hinge das Bild nicht immer wie eine Raute. Luther fällt fast auf den Bauch und die Professores und Studiosi auf ihn drauf. Weiß Gott, warum. Rütteln Autos und U-Bahnen derart an der Hauswand? Was soll‘s! Florian legt Hand an. Luther muss ins Lot. Ordnung muss sein. Erst dann kommt das Vergnügen.
All we want is life beyond the thunderdome. Tina wird in der Küche noch mal richtig laut und Leo tanzt im Takt dazu im Tanga. Mit der Kreissäge schneidet sie Brotscheiben, plötzlich Florians Hände in den Hüften, im Rhythmus mitschwingend. Sie lässt die Kurbel los. Greift hinter sich und faltet die Hände hinter seinem Nacken.
„Auch schon auf, Murmeltier? Rate mal, wie spät es ist!“
„Neun.“
„Neun Uhr?“ prustet sie los. „Eben kamen die Elf-Uhr-Nachrichten.“
Wecker stehen geblieben. Läuft zurzeit alles schief?
„Und? Gibt‘s was Neues?“
„Mächtig Randale letzte Nacht in Kreuzberg. Und die Wirtschaftsweisen werden morgen voraussagen: Keine vier Millionen Arbeitslosen mehr am Jahresende …“
„Super!“
„… sondern vier Komma vier.“
Haselbach muss lachen. Ungewollt. Über sich, nicht über die Meldung. Was ihn an Alarm erreicht, tröpfelt meist durch Leonores Filter. Er ist kein großer Zeitungsleser, kein Fernsehkieker, und wäre nicht Leos Drang zu Panorama, Fakt und Monitor, hätte er mehr Zeit für Wagner, Liszt und Beethoven .
„Übrigens: Ali hat wieder angerufen. Er sei im Laden.“
Florians Brauen schnellen hoch. Schweigend grapscht er die Kanne von der Kaffeemaschine, füllt die Tassen und hockt sich an den Küchentisch.
„Diese Drängelei, die hab ich gern. Vor allem am Tag nach deiner Rückkehr.“
Leo setzt den Brotkorb ab.
„Kein Problem. Ich wollte eh heute in meine Wohnung und bei Bakens reinschauen. Vater will sicher wissen, wie Bergner drauf war. – Und ist nicht heute dein Schachabend?“
Ja, natürlich. Fast vergessen. Schon wieder zwei Wochen vorbei. Diesmal bei Heiner. Turnusmäßig ist der mit Bier und Stullen dran.
Die reibungslose Prozedur nach dem Frühstück verrät das eingespielte Duo. Jeder Handgriff sitzt, drei Jahre lang eingeübt. Der häusliche Alltag erfordert kaum noch Worte. Geschirr ins Becken, Brotkorb in den Eckschrank, Kaffeekanne ausspülen und stülpen. Längst vorbei sind die Kontroversen darüber, wer wann abwäscht, ob mit oder ohne Spülmittel, bei laufendem Wasser oder im gefüllten Becken, ob das Geschirr selbst trocknen kann oder mit dem Küchentuch poliert werden muss. Geklärt ist, wer die Mülleimer hinunterträgt, wie oft – nach Florians Ansicht: selten – sie die Fenster putzen und wo die Eier besser aufgehoben sind: in Speisekammer oder Kühlschrank. Fragen von bedrohlicher Bedeutung für zwei, die sich zusammenraufen! Florian und Leo haben sie ausdiskutiert.
Jetzt ist Ali dran, auch kein Thema mehr zwischen ihnen. Doch Florian ist mit ihm noch immer nicht im Reinen. Dabei ist er schon seit fast drei Jahrzehnten sein Sohn, seiner so gut wie der seiner Mutter, so wie früher sein Bruder Werner – und doch nicht so.
Es ist zum Verrücktwerden, aber diese U-Bahnfahrt zum Laden seiner Eltern, wo sein Vater auf ihn wartet, ist jedesmal eine vertrackte Zeit des Zorns und die Stationsschilder vor dem Fenster, jedem anderen lesenden, SMS-schreibenden, spielenden, schlummernden Fahrgast egal, es sei denn, er muss aussteigen, diese Schilder pieksen wie Stichwörter. Zurückbleiben, bitte!
Rathaus Neukölln.
Hier stieg er immer aus. Zwei Ecken weiter war sein Gymnasium. Seine Mutter kannte es gut, von den Elternabenden und den Gesprächen und Konferenzen her, wenn er mit Zündholz und Reibefläche oder Bunsenbrenner die Aufmerksamkeit der Anderen in der Klasse erregte – und den Ärger der Lehrer. Wie oft saß sie im Sprechzimmer, dorthin zitiert oder aus eigenem Antrieb! Aber Ali, sein Vater? Keine Spur!
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