Mit einem veränderten Aussehen, einem neuen Wagen und einer neuen Identität fuhr er nun wieder in Richtung Kempen auf die Umgehungsstraße. Er schlug die Richtung A61 ein, mit dem Ziel Tirol. Unterwegs würde er genug Zeit haben, darüber nachzudenken, wie er nun mit seinem säumigen Auftraggebern weiter verfahren würde.
Am Ort des Verbrechens
Die Nacht in Igoschetsien war sternenklar, und über der Parkanlage des Palastes lag eine gespenstische Ruhe.
Würden nicht die vereinzelten Lichter im Palast, die Sterne am Himmel und der abnehmende Mond leuchten, hätte man nicht vermocht das Portal und das Rondell vor dem Palast auszumachen.
Die rote Sandsteintreppe war an diesem Abend mit einem gelben Flatterband abgesperrt. Mitten drin in der Absperrung stand Felipe mit einer Taschenlampe und neben ihm eine weitere Person mit asiatischem Aussehen.
Felipe leuchtete die Treppe aus. Ganz schwach waren auf dem roten Sandstein und den ebenfalls aus rotem Sandstein bestehenden Pflanzkübeln Spuren einer großen Blutlache zu erkennen.
„Der Staatspräsident versucht dem Blut mit Chemie Herr zu werden.“, erzählte der Mann auf gebrochenem Englisch.
Da weder der eine Russisch noch der andere Italienisch konnte, einigten sich Felipe und Kagujew, der leitende igoschetsische Ermittlungsbeamte, auf Englisch. Das konnten Beide gleichermaßen schlecht.
„Dummerweise hat der Sandstein das Blut tief eingesogen. Wenn die Chemie nicht hilft, lässt er die Treppe abtragen und neu bauen.“
Das interessierte Felipe alles herzlich wenig.
„Von wo kamen die Schüsse genau?“, fragte er dennoch freundlich.
„Ach ja! Sehen Sie da drüben diesen hübschen Berg?“
Felipes Blick folgte dem Arm von Kagujew. Nur schwach war in der Dunkelheit die pechschwarze Silhouette eines großen rundlichen Berges auszumachen.
„Das sind doch wenigstens Fünfhundert Meter, oder?“
„Am Fuße des Berges sind es bis hier her 635 Meter. Aber wir gehen davon aus, dass sich der Schütze ziemlich weit oben in Richtung Bergkuppe positioniert hat. Da hätte er die günstigste Schussposition gehabt. Also war der Schütze zwischen 800 und 850 Meter von seinem Ziel entfernt.“
„Das ist, für meine Begriffe, bei einem solch präzisen Schuss eine enorme Entfernung!“
„Das ist richtig! Hier war ein Scharfschütze mit einem speziellen Präzisionsgewehr am Werk!“
„Haben Sie das Projektil gefunden?“
„Ja! Es hat einen Pflanzkübel da drüben durchschlagen, und sich in der Pflanzenerde festgesetzt. Es war nicht schwer sie zu finden. Der Kübel ist dabei zersprungen.“
„Du meine Güte! Was muss das für eine Waffe gewesen sein, mit einer derartigen Durchschlagskraft!?“, rief Felipe erstaunt. „Konnten Sie schon etwas über die Waffe in Erfahrung bringen, außer das es ein Präzisionsgewehr ist? Nun ja, Mister Ventucelli, es war auf keinen Fall eine russische Waffe. Russische Gewehre dieser Art arbeiten mit Munition vom Kaliber 10 mm oder, wie fast alle Waffen der Kalaschnikowserie, mit 9 mm Stahlmantelgeschossen! Außer das Schwere Maschinengewehr von Kalaschnikow, das feuert mit Kaliber 15 mm.“ Kagujew geriet ins Schwärmen. „Sie müssen wissen, jede Kalaschnikow, egal ob eine AK47 oder eine kleine handliche MPi für Fallschirmspringer oder ein LMG beziehungsweise SMG besitzen in den funktionswichtigen Teilen die identischen Bauteile, so auch die Munition, mit Ausnahme des SMG. Diese Kompatibilität hat den Vorteil, dass ein Soldat auf dem Schlachtfeld sich zu jeder Zeit bei einem toten Kameraden bedienen kann. So könnte zum Beispiel ein AK47-Schütze seinen defekten Schlagbolzen gegen einen intakten Schlagbolzen eines zerstörten Schwermaschinengewehrs aus der Kalaschnikowserie einbauen. Ist das nicht genial? Die Truppe führt sozusagen ihr Ersatzteillager mit sich. Kalaschnikow ist nicht umsonst das meist verkaufte Schusswaffensystem der Welt.
Nun kommt aber das Wesentliche! Die Waffe unseres Attentäters hat aber ein Kaliber von 12,7 mm, keine 9 oder 10 oder gar 15 mm.“
„Was gibt es da noch für Möglichkeiten?“
„Nicht viele. Es gibt eine kleine Waffenschmiede in Italien, die derartige Waffen herstellt. Natürlich sind da noch die waffenverrückten Amerikaner. Und eine kleine Waffenfabrik in Polen hat schon derartige Präzisionsgewehre hergestellt, damals im kalten Krieg. Aber heute bauen die nur noch Jagdwaffen.“
„Was haben Sie noch?“
„Nicht mehr viel. Der Typ war ein absoluter Profi. Aber das dachten Sie sich bestimmt schon. Er hat die benutzte Munition, ich sage mal, leicht verändert und damit die Zerstörungskraft des Projektils noch erhöht.“
„Wie meinen Sie das?“
„Die Amerikaner haben im Vietnamkrieg ihren Stahlmantelgeschossen die Spitzen der Projektile abgefeilt und kreuzförmig eingekerbt. Dies hatte zur Folge, dass die abgeschossenen Projektile in ihrer ansonsten korrekten Flugbahn unruhig rotierten und wie kleine Fräsen in ihr Ziel eintraten. Im weichen inneren des Körpers verursachten sie verheerende Schäden. Erfunden haben es aber die Engländer während ihrer indischen Kolonialzeit. Gemeinhin nennt man diese Projektile auch Dum Dum Geschosse. Wird ein Mensch von so einem Geschoss auch nur an einer harmlosen Stelle getroffen, stirbt er oftmals trotzdem. Er verblutet, da die inneren Verletzungen zu schwerwiegend und umfangreich sind. Nach dem Ende des Vietnamkriegs wurden die Dum Dum Geschosse auf die Liste der geächteten Waffen gesetzt.“
„Warum sollte sich ein Killer daran halten?“
„Richtig! Noch eine Kleinigkeit. Wir hatten an dem Tatabend zwar eine helle Vollmondnacht, aber der Mörder wird über diese Distanz eine Zielvorrichtung gebraucht haben. Also muss die betreffende Waffe ausrüstbar sein für eine solche Zielvorrichtung.“
„Haben Sie den genauen Abschussort gefunden?“
„Vom Schusswinkel her eingrenzend können wir nur das obere Drittel dieses Berges mit Sicherheit bestimmen. Unsere Männer haben auf dem Berg quasi jeden Grashalm umgedreht. Doch nichts! Scheinbar hatte die Waffe einen Hülsenfang. Noch nicht einmal die haben wir gefunden! Auch wenn wir eine helle Vollmondnacht hatten, findet man nicht so schnell eine Patronenhülse die durch die Gegend fliegt.“
„Da habe ich doch schon mal eine Menge Informationen erhalten.“ Felipe zog aus seiner Jackentasche ein Diktiergerät hervor. „Fassen wir zusammen. Tatabend war eine Vollmondnacht. Abschuss erfolgte von einem noch zu begutachtenden Berg. Schussdistanz zwischen 800 und 850 Metern, Kaliber 12,7 mm.“
Felipe schaute Kagujew an, der eifrig nickte.
„Keine russische Waffe. In Frage kommende Hersteller aus Italien, Polen und den USA. Verwendung von Dum Dum Geschossen und Zielvorrichtung. Ein sogenannter Hülsenfang ist wahrscheinlich.“
Felipe sah erneut zu Kagujew, der unauffällig auf die Uhr schaute.
„Zwei Fragen hätte ich noch. Sie scheinen sich ja auf diesem Gebiet bestens auszukennen. Dann entlasse ich Sie für heute in Ihr Bett!“
„Ach, Mister Ventucelli! Ich arbeite gerne mit engagierten Polizisten zusammen. Zumal es um den Papst geht! Nun, was haben Sie noch?“
„Ach wissen Sie, diese Waffe hat Kaliber 12,7 mm und auf über 800 Metern eine höllische Durchschlagskraft. Ich könnte mir vorstellen, dass eine solche Waffe groß, schwer und nicht einfach zu händeln ist. Braucht man da nicht schon fast eine...“ Felipe überlegte kurz „...eine Art Aufstellvorrichtung, eine Verankerung?“
„Wissen Sie, heutzutage ist das alles eine Frage der Technik und des Geldes! Ein derartiges Gewehr muss nicht mehr viel größer als eine normale Jagdflinte sein. Wenn sie zwischen 150 und 160cm lang ist, dann ist sie schon groß. Was wird so ein Teil wiegen? Zehn maximal Fünfzehn Kilogramm, vielleicht! Sie sprechen wahrscheinlich auf den Rückstoß an. Da gibt es heutzutage schon hervorragende Rückstoßdämpfer. Ein einfaches Zweibein am Lauf würde reichen. Nichts desto trotz muss man für einen solchen Schuss ein hervorragender Schütze sein, trotz aller Technik. Ich sage mal so, im Zweiten Weltkrieg hätte man einen derartigen Schuss, beim damaligen Stand der Technik, nicht hin bekommen, oder nur mit Glück.“
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