1 ...7 8 9 11 12 13 ...22 Als sie dann erwacht, fühlt sie sich ausgeruht und ruhig. Tief im Innern aber ist noch lange nicht alles in Ordnung und sicher hätte es nur eines kleinen Auslösers bedurft und Magda hätte erneut eine Ohnmacht erlitten. Aber es geschieht nichts. Eine Amsel über ihr singt und am Sonnenstand erkennt sie, dass es wohl noch früh am Morgen ist. Die Sonne ist zwar schon aufgegangen, aber sie hat noch nicht die Wipfel der Bäume überstiegen. Die Wiese, auf der sie liegt, ist vom Morgentau noch feucht. Auch ihre Kleider sind deshalb klamm und sie freut sich darauf, in der Sonne zu trocknen. Hunger und Durst hat sie. Für den Durst plätschert in der Nähe ein kleines Rinnsal. Gierig trinkt sie aus dem Bächlein. Auch wenn das Wasser sehr kalt ist. Nur mit dem Essen ist das immer noch so eine Sache. Löwenzahn ist das Einzige, von dem sie weiß, dass es ihr bekommt, das sie findet. Und ein paar Käfer, die sie kennt, kann sie erhaschen. Schweren Herzen überwindet sie sich, Krabbelviecher zu verspeisen. Hauptsache, der Hunger ist erst einmal gestillt und der Magen beschäftigt; auch wenn er massiv revoltiert.
Sie blickt sich um. Wozu eigentlich? Sie weiß schon lange nicht mehr, wo sie ist. Sie ist weit von zu Hause (wieder steigen ihr Tränen in die Augen) und sie kennt die Gegend nicht. Ach, wie sie ihre kleine Siedlung doch so sehr vermisst. Was nun? Wohin gehen? Natürlich nicht mehr auf den Berg. Keine zehn Pferde würden sie da hinauf schaffen. Aber, ….?
Wo ist eigentlich der Berg? Ist es der ihr gegenüber? Oder ist es der weiter hinten zur Rechten? Oder ist es nur die kleine Anhöhe hinter ihr? Es gibt keine Orientierung für sie. Seit dem kleinen Ziegenbockreiter ist alles Folgende in Dunkel gehüllt. Sie hat keine Erinnerung, dass sie die große Strasse überquert und auf der anderen Seite, ein wenig westlich gewandt, wieder eine kleine Anhöhe erklommen hat.
Magda versucht, mit ihrem bescheidenen Wissen, ihr Weiterkommen zu überdenken. Wasser war sehr wichtig, das weiß sie. Und alle Siedlungen die sie kennt oder von denen sie weiß, liegen an einem Wasser. Sei es Fluss oder See. Gut! Wasser ist hier neben ihr. Zwar klein und nicht geeignet, viele Leute und deren Tiere zu versorgen, aber immerhin. Wie immer ist ein großer Umblick nicht möglich. Sie kann also nirgends eine Lichtung sehen, auf der vielleicht Menschen leben würden. Selbst das hätte ihr aber nichts genutzt, denn, und das ist ihr auch klar, es könnte auch eine Wüstung sein. Dort hatten vielleicht früher einmal Menschen gelebt. Weil der Acker aber keinen Ertrag mehr brachte, waren sie weiter gezogen. Außer Disteln und Brennnesseln hätte sie dort nicht viel vorgefunden. Mit viel Glück vielleicht ein halb verfallenes Dach, unter dem sie sich hätte verbergen können. Kleines Wasser läuft in großes Wasser, hatte ihr die Großmutter erklärt. Also muss sie jetzt nur dem kleinen Bach folgen, bis er in einen größeren Bach oder Fluss mündet. Dort sollte sich wohl eine Siedlung in der Nähe finden lassen.
Nachdem sie ihre Notdurft erledigt und sich im Bach gereinigt hat, beginnt sie ihre, nun endlich, selbst geplante Wanderung auf der Suche nach einer Bleibe. Sie folgt dem Bachlauf abwärts, so gut sie kann. Oft genug, muss sie, wieder einmal, dem Wald und den Sträuchern ausweichen. Aber immer behält sie den Bach im Blick; oder zumindest im Ohr. Es ist nicht einfach; wirklich nicht.
So ist Magda nun schon einige Zeit gewandert. Gerade eben hat sie eine kleine Rast gemacht. Aus dem Bach hat sie etwas getrunken. Voraus kann sie schon erkennen, dass sich dort wohl eine dichte Hecke gebildet hat, die sie wohl umgehen muss, denn der Bach läuft zwischen den Büschen hindurch. Nur nicht zu früh vom Bach abweichen. Soll sie nun rechts herum laufen oder links? Es möchte sein, der Bach nimmt eine Wendung und sie findet ihn hinter der Hecke nicht mehr. Aber die Entscheidung wird ihr abgenommen.
Noch während sie darüber nachdenkt, hört sie die Stimme ihrer Tante: “Magda, wo hast du so lange gesteckt? Die Schweine und Gänse wollen versorgt werden. Meinst du, das ginge von alleine?“
Sie hasst nicht nur die Stimme ihrer Tante. Doch wo ist sie? Magda blickt sich um. Es kann nicht sein, dass sie so nahe ihres Zuhauses ist. Nein, niemand zu sehen. Sicher nur eine Einbildung. Kein Wunder nach den letzten Erlebnissen. Und Magda geht weiter.
„Ich habe es satt, dich durchfüttern zu müssen.“ Das ist ihr Onkel. Ist der auch hier? Halt, wieso auch? Ihre Tante ist doch auch nicht hier, Aber der Onkel? Ganz deutlich hat sie seine Stimme gehört. „Nichts machst du ordentlich. Willst du wohl endlich herkommen, wenn ich dich rufe? Du sollst dich nicht so weit im Wald herum treiben.“
„Magda, wo bist du? Ich kann dich nicht finden. Komm zurück!“ Das ist Hilda, die kleine Tochter ihres Onkels, die sie so sehr liebt. Es zerreißt ihr fast das Herz. Aber nein, das kann doch nicht sein. Magda dreht sich im Kreis, kann aber noch immer niemanden erblicken. Wo kommen die Stimmen her? Das ist doch nicht möglich. Sie verspürt den Drang, nach Hause zu gehen. Dort ist es doch viel schöner, als hier. Sie kann es nicht begreifen. Sie hört die Stimmen, klar und deutlich. Aber sie kann niemanden sehen. Wie kann das nur möglich sein. Wie?
Schon lange ist sie keinen Schritt mehr gegangen. Die Stimmen haben sie aufgehalten. Aber sie will doch weiter. Sie will doch eine Siedlung finden, neue Menschen, die sie aufnehmen, weil sie zu Hause nicht mehr sein darf. Aber jetzt rufen sie die Stimmen nach Hause zurück. Das ist doch nicht vernünftig. Oder doch? Hat sie sich geirrt? Haben Onkel und Tante sie doch lieb? Warum hört sie ihre Großmutter nicht?
Nein, so gerne sie auch wieder nach Hause ginge, aber es ist ihr doch verboten. Der Herr selbst hat sie fortgeschickt. Will man sie nach Hause locken, damit sie bestraft werden kann? Wie gemein. Sogar die kleine Hilda missbrauchen sie, um mich zu kriegen, denkt Magda.
Sie merkt nicht, dass sie bereits die Stimmen ernst nimmt. Sie spürt nicht, dass sie die Realität nicht mehr wahr nimmt. Ihre Umgebung verschwimmt vor ihren Augen. Der Bach, die Hecke – nichts mehr sieht sie so, wie es ist. Eine Scheinwelt baut sich in ihr auf. Jetzt sieht sie auch ihre Lieben und auch die weniger oder gar nicht Geliebten. Sie sieht Großmutter, die die kleine Hilda auf dem Schoß hat. Beide schauen so unendlich traurig drein. Sie sieht jetzt auch Tante und Onkel. Sie stehen nicht weit vor ihr und schauen gar nicht freundlich.
Dann sieht sie Hermann, des Grafen Sohn und Vater ihres Kindes. „Na, du Lügnerin! Trau dich nur her. Man wird dich lehren, die Wahrheit zu sprechen. Der Stock freut sich schon, auf deinem Rücken zu tanzen. Komm nur, komm nur.“, hört sie ihn rufen. Und zu allem Überfluss taucht übermächtig hinter allen der Graf auf, riesig groß, und er schreit nach ihr. „Magda, ich kriege dich! Wo du dich auch versteckst! Du entkommst mir nicht! Wage es nicht, weiter zu gehen!“
Aus dem Wunsch, weg zu gehen, ist ein Zwang zur Flucht geworden. Dort vorne, hinter der Hecke, da sind sie alle. Da warten sie alle, um ihr Böses zu tun. Nein, ihr kriegt mich nicht. Ihr habt mich nicht lieb. „Nein!“ schreit Magda, „Ich will nicht. Lasst mich.“, bricht es aus ihr heraus.
Magda dreht sich um und rennt. Sie rennt und rennt und rennt. Sie kann nicht mehr denken. Des Zaubers, dem sie gerade erliegt, kann sie sich nicht erwehren. Denn ja, dies ist ein Zauber. Alle Menschen, die sie gesehen und gehört hat, sind überhaupt nicht gegenwärtig. Es gibt sie hier nicht. Im Moment verschwendet keiner von ihnen auch nur einen Gedanken an sie. Vielleicht ausgenommen Großmutter und Hilda. Ein Abwehrzauber zwingt sie dazu, sofort und so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Ihm nicht näher zu kommen.
Sonst wirkt der Zauber nicht so stark. Er ist ausreichend, jeden, der nicht willkommen ist, zu vertreiben. Doch bei Magda, die schon so schreckliches kurz zuvor erlebte, wirkt der Zauber so viel stärker. Schon wieder rennt sie, ohne auf irgendetwas zu achten, durch den Wald. Jedes Tier, das sie bei ihrer Flucht aufscheucht, erschreckte sie noch mehr. Doch diesmal rettet sie keine schützende Ohnmacht.
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