Servatius nennt sich der Bruder. Er ist zu Fuß unterwegs, das Heil zu verkünden und im Auftrag des Bischofs zu Moguntia Orte für neue Klostergründungen zu suchen. Seine braune Kutte ist so staubig, dass selbst Flöhe wohl einen Hustanfall bekommen hätten. Und sie ist so weit, dass sie trotz der Schnur, die sich der Mönch um die Hüften gebunden hat, um den hageren Körper herum schlabbert. Sicher war ein früherer Besitzer weitaus kräftiger im Umfang gewesen, als Servatius. Die Sandalen sind auch bald nicht mehr zu gebrauchen. Das Leder ist spröde und rissig.
Die Sonne steht schon hoch und es ist sehr heiß. Magda schwitzt sehr und auch der Mönch ist nass im Gesicht. Die Kapuze hängt auf seinem Rücken. Die Fliegen sind in dieser Jahreszeit im oft sumpfigen Chynzgebiet ein ständiger Begleiter. In Schwärmen summen sie um die Menschen herum und saugen ihnen das Blut aus. Magda fragt sich, wie schon so oft, was diese Mücken fressen, wenn keine Menschen des Weges kommen.
Das alles bringt Servatius nicht aus der Ruhe. Fröhlich singt er verschiedene Lieder über Gott und Engel und Paradies. Magda hört nicht zu. Sie ist müde und erschöpft. Viel zu essen hat ein Mönch nicht. Ab und zu kann er an einer Hütte klopfen und einen Kanten Brot oder eine Schale Brei erbetteln. Dazu Wasser aus der Chynz und was sich halt so am Wegesrand essbares finden lässt. Dabei ist er nicht wählerisch. Es darf auch schon einmal ein Wurm oder ein Käfer sein. Vielleicht bin ich noch nicht hungrig genug, denkt sich Magda, die es immer wieder überläuft, wenn sie nur an das Knacken der Käfer im Munde des Mönches denkt. Eklig.
„Hast du eine Ahnung, wo wir hier eigentlich sind?“, fragt der Mönch.
Magda blickt sich automatisch um, obwohl sie sich hier überhaupt nicht mehr auskennt. Sie sieht nur Bäume und Sträucher, wie schon die ganzen letzten Tage, seit sie wandern. Früher war sie nie so weit aus dem Dorf gekommen. Wie sollte sie da wissen, wo sie waren. Außerdem hatten sie nur selten die große Handelsstrasse benutzt. Vielmehr waren sie auf vielen Umwegen gewandert, schließlich suchte der Mönch ja nach Orten für eine Niederlassung.
Magda weiß nicht, was für sie schöner wäre. Hier durch den Wald zu laufen oder zu Hause auf dem Feld zu arbeiten. Die Anstrengungen der Bauernarbeit ist sie gewohnt. Das lange Laufen aber tut ihren Füßen weh. Und dazu noch der Singsang des Mönches. Oder seine Vorhaltungen und Ermahnungen ob ihrer bösen Tat.
Sie hat nichts Böses getan. Nur die Wahrheit gesagt. Aber das darf man als Unfreie nicht. Als sie Servatius ihren Standpunkt klar machen will, meint er nur: „Es ist Gottes Wille, dass wir uns in Demut üben, wie es sein Sohn Christus tat. So nimm deine Strafe hin und danke dem Herrn.“
Damit aber stößt er natürlich bei Magda auf Unverständnis. Sie weiß kaum etwas über die Lehre Christi. Das bisschen, das sie bisher gehört hat, erscheint ihr nicht verlockend. Dann lieber die alten Götter der Ahnen.
„Eigentlich“, so meint Servatius, „sehe ich für dich auch keine Strafe. Dein Herr hat es doch sehr gut mit dir gemeint. Natürlich wirst du auch im Kloster schwer arbeiten müssen, so lange du es vermagst. Du wirst vor dem Kloster bei den Bediensteten leben, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang deinen Aufgaben nachkommen, aber du bist auch versorgt. Die Arbeiten dort kennst du schon von deinem Onkel und seiner Frau. Schwere Feldarbeit und Vieh hüten und versorgen. Nichts Neues für ein Bauernkind. Oder, weil du eine Frau bist, in Küche und Haushalt helfen. Waschen, nähen, putzen; alles was du auch bisher schon machen musstest. Sicher wird dort ein Medicus zu finden sein, der dir bei der Entbindung beistehen kann. Du wirst dort viel lernen können über Kräuter oder feine Gemüse und Blumen im Garten. Vielleicht kannst du auch ein wenig Rechnen, Lesen und Schreiben lernen. Damit kann aus dir bestimmt sogar noch etwas werden. Wie wäre es für dich, du gäbest dein Kind an andere Eltern und gingest in ein Frauenkloster? Für´s Leben wohl behütet und versorgt, in Gottes Nähe, stets bereit Gutes deinen Mitmenschen zu tun. Das ist doch sicher ein besseres Leben als das, das du als Unfreie bei deinem Herren je hättest erwarten können. Sieh es doch mal von der Seite und denke darüber nach. Wirklich, Kind, ich glaube, dein Herr will dir mehr helfen, als dass er dich strafen will.“
Magda ist erstaunt. Kann das sein? Ihr Herr will ihr helfen? Wofür? Warum? Ja, es ist richtig; schwer arbeiten ist sie gewohnt. Und auch die Hausarbeiten sind ihr bekannt. Von ihrer Großmutter hat sie auch schon so manches Kraut kennen und nutzen gelernt. Doch was hat der Mönch gestern erklärt, als sie fragte, warum er so oft bete? >Ein frommer Mönch ist ein Vorbild für die Menschen. Ein Leben in Christi heißt Armut und Verzicht und Frömmigkeit. Täglich sieben Gebete, eines des Nachts und sechs tagsüber, seien Pflicht.< Das gilt dann sicher auch für die Nonnen. Auch das mit dem Fasten gefällt ihr nicht so besonders. Wenn es schon was zu essen gibt, braucht sie keinen Fastentag oder zwei in der Woche. Dann will sie jetzt essen; morgen hat vielleicht ein Anderer es weg gegessen.
Aber Magda hatte wieder einmal nicht richtig zugehört. Als Servatius dies erzählte, sprach er von den Regeln für die Mönche. Diese galten aber nicht vollständig für die Bediensteten. Nein, war ihr Schluss, der Herr hatte es bestimmt nicht gut mit ihr gemeint. Bestimmt will der Mönch nur, dass sie auf der langen Wanderschaft keinen Ärger macht, weil sie sich auf ihr neues Leben freut. Nein, ins Kloster will sie nicht. Überhaupt nicht. Schläge wegen Ungehorsam oder Regelbruch bekam sie überall. Dafür braucht sie kein Kloster.
Schweigend gehen sie weiter bis zum Abend. Servatius glaubt, ihr das Leben im Kloster gut dargelegt zu haben, während Magda froh ist, endlich keine wohlgemeinten Sprüche mehr hören zu müssen. Die kommen nun beim Nachtlager.
„Morgen werden wir bei Steinaha sein. Dann haben wir schon ein gutes Stück des Wegs geschafft. Sicher freust du dich schon darauf, ins Kloster zu kommen, doch gedulde dich noch ein wenig. Es wird noch ein schwerer Gang. Immer weiter hinauf in die Höhen.“
Magda gibt keine Antwort und kaut still auf dem alten Brot herum.
„Die Menschen wissen gar nicht, in welch gefährlichen Zeiten sie leben. Dabei gibt Gott der Herr ständig seine Zeichen für alle sichtbar an den Himmel. Da war zum Beispiel vor rund hundert Jahren, es muss wohl zu Beginn von Kaiser Justinian I von Rom gewesen sein, eine Erscheinung am Himmel, die man Pogonia nannte. Kaum nahm Gott dies Zeichen weg, erbebte in Mösien die Erde so heftig, dass sie aufriss und sogar Berge gespalten wurden. 24 Kastelle wurden damals in kurzer Zeit vernichtet. Welche irdische Armee könnte dies vollbringen?
Keine zwanzig Jahre später sendet Gott das Zeichen Lampadia ans Firmament und siehe, in Ancona bricht eine große Hungersnot aus. Bald darauf schickt Gott sein Zeichen nach Gallien und, was soll ich dir sagen, es fällt blutroter Regen. Noch lange danach waren die Hauswände mit Blut befleckt und die Pocken brachen aus.
Im Nordwesten“, er fuchtelt mit seinem Arm in die vermutete Richtung, „haben sie am Himmel eine Lanze gesehen und es dauert nicht lange und es folgt ein Gewitter, wie es vorher noch keine Menschenseele je erlebt hat. Nur zwei Jahre später steht die Lanze über dem Himmel von Konstantinopel und die Erde bebt zehn Tage lang. Danach hat es einen so strengen Winter, dass der zurzeit von König Theudebert I harmlos erschien. Damals war es so kalt, dass die Leute die Vögel mit der Hand fangen konnten. Die Tierchen wollten nicht mehr fliegen. Der Winter war so unsäglich kalt, dass sogar die große und mächtige Donau zufror und Zaberga, dieser Ungläubige, seine Hunnen nach Mösien und Thrakien, ja zum Schluss auch noch bis zu den Hellenen führen konnte.
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