alter Freund,
diese geringe Bitte werden Sie doch uns, Ihren Unterstützern, in der Not, gewähren?“
Pelates war eloquent wie immer, seinen Sprachfehler hatte er gut unter Kontrolle, er lispelte kaum, auch wenn es seine Art zu reden immer begleitete. Vincus hatte ruhig zugehört, die versteckten Drohungen waren ihm natürlich nicht entgangen.
„Pelates, alter Mitstreiter, natürlich dürft Ihr, das heißt, Eure Familie, der Zeremonie beiwohnen. Nichts, aber auch gar nichts spricht dagegen. Was immer auch heute geschieht, glaubt mir, es ändert nichts an der Beziehung, an der wir nun seit Längerem arbeiten. Wir werden eine Lösung finden, dessen bin ich sicher, wir sind doch alle vernünftige Nocturnen...,“, dabei sah er für den Bruchteil einer Sekunde auf Calavus, der den Affront sofort bemerkte, „die nichts wollen als das allerbeste für – natürlich – jedermann.“
Nach außen die Ruhe selbst kannte Vincus seine Situation genau und Pelates hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er ihn dafür verantwortlich machte. Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte, doch es gab nichts, was den Weg, den Juchata mit ihrer irrwitzigen Wahl betreten hatte, verhindern konnte. Natürlich wäre es besser gewesen, wenn sein Erbe an einen brillanten, wenn auch unfertigen Nocturn wie Calavus gegangen wäre, den er noch hätte beeinflussen können. Die Situation im Parlament hingegen war das dringendere Problem, denn die Zahl seiner Unterstützer sank nach der heutigen Nacht rapide, und wenn nicht bald etwas geschah, stand es schlecht um seine weitere Karriere. Zumal er die Dinge, die wegen der Schande Naxbils auf ihn zukommen konnten, noch nicht vollständig überblicken konnte. Die Situation war brandgefährlich, und auch wenn er wusste, dass es närrisch war, schickte er ein stilles Stoßgebet Richtung Mond. Ophras, das wusste er, kümmerte sich nicht um solch nichtige Probleme. Doch hier, heute Nacht, hatte Vincus keinen Ausweg und musste in der Sackgasse, in der er gelandet war, nach Möglichkeiten suchen, weiter zu kommen. Er fühlte sich elend, doch lag es weder in seiner Natur, das zu zeigen, noch vorschnell aufzugeben. Aufrecht und stolz stand er vor den Borjas, strahlte Zuversicht aus, wie nur ein Führer es vermag, der bereits durch alle Feuer der heißesten geistigen Belagerungen gegangen war.
Calavus hatte sich ein wenig beruhigt, auch wenn er seine Wut noch nicht vollends unter Kontrolle hatte. Er ließ sich jedoch nicht mehr provozieren, zeigte damit, dass er langsam zu alter Stärke zurückfand.
„Er wäre eine echte Herausforderung gewesen,“ dachte Vincus, „das einzige Problem liegt in seiner Loyalität zu seiner Familie, doch die hätte ich schnell auf ernste Proben gestellt.“ Vincus bedauerte es zutiefst und machte sich im Geiste heftige Vorwürfe, dass er die Wahl seiner Tochter nicht stärker beeinflusst hatte. Doch damit hielt er sich nicht lange auf. Niederlagen lässt man schnell hinter sich, um sich am nächsten Sieg aufzubauen.
Ketauro unterbrach die geheimnisvolle und unehrliche Atmosphäre im Raum.
„Es ist alles vorbereitet. Treten Sie ein.“
Wieder schritt Vincus voran in die prachtvolle Halle. Die Säulen aus weißem, kalten Stein leuchteten und brannten fast in den Augen. Wenn auch nur ein winzigster Lichtstrahl sich jemals in diese Halle verirren würde, wären alle Nocturnen, die sich darin aufhielten, blind, dessen war sich Vincus sicher. Mächtig standen die Säulen wie Soldaten an der Seite, steinerne Riesen, in Reih und Glied. Unverschiebbar wachten sie über das Geschehen zu ihren Füßen. Mehrere Reihen in schier unendlicher Weite erstreckten sie sich, die Decke war von unten kaum sichtbar, so hoch war der Raum.
Erst am Ende des Saales hörten die Säulen plötzlich auf. Dort befand sich eine riesige Plattform, auf der Ketauro den Altar des Ophras hergerichtet hatte. Es war ein schlichter eckiger Stein aus schwarzem Granit, der in völligem Gegensatz zum weißen Saal stand. Es fehlte nur noch das Brautpaar, das sich noch Zeit ließ. Zeit, für die Vincus dankbar war, denn vielleicht hatte er noch einen rettenden Einfall. Die Minuten verstrichen. Plötzlich, in der Stille des feierlichen Moments, krachte es gewaltig am anderen Ende des Saals. Alle schauten gebannt auf die Eindringlinge, allen voran hinkte Baribas. Für eine Sekunde leuchteten Vincus' Augen, unsichtbar für alle anderen. War das die Rettung?
Naxbil schlich zufrieden die Gassen der Unterstadt entlang. Er hatte bekommen, was er wollte. Seine Wahl war auf zwei reizende Geschöpfe gefallen, die ihn und sich selbst bis zum Letzten verwöhnt hatten. Die sexuellen Fähigkeiten, die Namenlose bereits in so jungen Jahren besaßen, erstaunten ihn immer wieder. Hemmungslose körperliche Liebe schien ihnen ins Blut geimpft. Beide Nocturninnen waren wunderschön gewesen, eine schlanke schwarzhaarige mit festen Brüsten, die andere eine üppige Blondine mit sanften Kurven. Die Zeit war in diesem unscheinbaren Haus wie im Flug vergangen und er war erstaunt, dass es bereits so spät war. Die Beiden musste er unbedingt wiedersehen, auch wenn es schwierig werden würde, denn ihre Namen kannte er nicht.
Naxbil kam in einen Teil der Stadt, in dem es wie in den meisten lauter zuging. Es wurde sogar immer voller, so dass Naxbil drängeln musste, um voranzukommen. Er wollte eigentlich nur noch in die Oberstadt, auf dem schnellsten Weg hier weg. Noch hatte er drei Stunden Zeit, bevor die Sonne aufging und die lange Nacht beendete, doch hatte er keinen weiteren Grund zu bleiben. Die Enge störte ihn anfangs nicht, er wusste, dass die Stadt hier unten überbevölkert war. Je weiter er lief, desto dichter standen die Nocturnen zusammen, ein selbst für diesen Ort ungewöhnlicher Auflauf. Jetzt hörte er es auch, jemand sprach im Dialekt der Unterstadt, eine etwas andere Form im Vergleich zur Oberstadt. Die Endungen zogen sich in die Länge, Ausdrücke und Worte waren verschieden, denn in den Jahrhunderten der Trennung und der geringen Vermischung waren zwei Sprachen entstanden, auch wenn beide noch genug Gemeinsamkeiten hatten, um sich zu ähneln.
Naxbil hatte diese Sprache der Unterstadt bereits vor langen Jahren lernen müssen, denn noch mehr als das falsche Gewand konnte ihn der falsche Dialekt zur jeder Zeit überall verraten. Er sprach ihn fast perfekt und nur manchmal, in seltenen Momenten, hielten Namenlose für einen Augenblick inne, bevor sie die Gedanken an einen Hochgeborenen in ihrer Welt mit einem Kopfschütteln verscheuchten.
Naxbil ärgerte sich bereits, dass er diesen Weg gewählt hatte. Es war der kürzeste, doch jetzt standen zu viele Nocturnen im Weg. Auch zurück konnte er nicht mehr, denn hinter ihm hatten sich die Reihen geschlossen und drängten nach vorne, wo er, gefangen zwischen der Meute, kaum noch einen Fußbreit vorankam. Eine röhrende Stimme, eindringlich und beinahe monoton, bedrängte seine Ohren. Diese Stimme wurde immer lauter, er konnte bereits Satzfetzen verstehen, auch wenn er den Sprecher noch nicht sehen konnte. Es fielen Worte wie „Aufruhr“, „Unterdrückung“ und „Sklaverei“ und langsam dämmerte es Naxbil, dass er in einen der berüchtigten Aufstände der Namenlosen hinein geraten war. Der Sprecher sprach weiter, „Ungerechtigkeiten“, „Hunger“, „Befreiung“. Es gefiel Naxbil gar nicht, denn wo das enden würde, wusste der Sohn des Vincus genau. Die Armee würde rasch Wind von der Sache bekommen und einrücken, dabei alles kurz und klein schlagen, was sich ihnen in den Weg stellen würde. Die Meute begann jetzt, den Sprecher zu unterstützen, Rufe feuerten ihn an, stimmten ihm zu und die Stimmung wurde mit jeder Sekunde aggressiver. In Naxbil wuchs bereits eine leichte Panik heran, er wollte jetzt so schnell wie möglich hier heraus, zurück in die sichere Oberstadt, doch seine Bewegungen waren jetzt vollends zum Stillstand gekommen. Statt sich in Richtung Ausgang zu bewegen, schob ihn die Masse langsam und unaufhaltsam in eine Richtung, die ihn von seinem Ziel immer weiter entfernte. Neben ihm begannen die Nocturnen, alles, was sich als improvisierte Waffe eignen konnte, aufzusammeln, Holzlatten, Eisenstangen, Steine. Die Rufe wurden immer lauter, Naxbil war mitten in den Aufstand geraten. Bislang hatte er so etwas immer nur von Erzählungen gekannt. Die Propaganda der Oberstädter berichtete in unregelmäßigen Abständen über Revolten in der Unterstadt, die die glorreiche Armee unter todesmutigem Einsatz ohne viel Federlesens zunichtegemacht habe. Dass dabei Heldengeschichten entstanden, war Teil des Plans, Gladicus gehörte immer dazu, Worte wie „Krieg“ und „Schlacht“ fielen leicht, auch wenn selten mehr als zwei Dutzend Namenlose involviert waren.
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