Bleibt zu berichten, dass die Bewohner von heute stolz auf all den materiellen Luxus verweisen, mit dem der Salvo damals ausgestattet worden war. Der Marmor stammt aus Carrera, das Eichenholz aus dem Kaukasus, der Granitstein aus Deutschland und die farbigen Bleifenster aus Italien. Wie anderswo im Südamerika der letzten 250 Jahre fieberte man während der Hochzeiten wirtschaftlichen Reichtums im anschwellenden Triumphgesang: Man konnte es Europa gleichtun!
Von schmutziger Wäsche, die auf Schiffen zum Waschen nach Paris gebracht wurde wie es die zu unverschämtem Wohlstand gekommenen verbrecherischen Kautschukbarone von Manaos seinerzeit handhabten, weiss man von Montevideos Oberschicht jedoch nicht zu berichten. Wahrscheinlich war neben dem Kodex bürgerlicher Anstandsnormen die historisch nur kurze Dauer von Wohlstand dafür verantwortlich, dass die Träume der Salvos nicht in den Himmel wuchsen: 1929 kam es zur Weltwirtschaftskrise. Ihre Utopie von Großartigkeit und weltweitem Glanz zerbröselte zwar – aber das Gebäude war zeitig fertig geworden und steht noch heute. Es war nicht mit Hypotheken gebaut und aus solidem Beton.
Auch heute am 16. September 2008, dem zweiten Tag eures Aufenthaltes in Montevideo ist nach 80 Jahren erneut die Utopie eines grenzenlosen Wohlstands zusammengebrochen. Die Zeitungen hier – La República, El País und die spanischsprachige Ausgabe von Le Monde Diplomatique – berichten mit triumphalem Unterton vom Untergang der Wall Street. Aus ihm wird unter der Hand gleich Washington, die ganze USA: El ocaso de Washington, Washingtons Untergang! Das entspricht dem in fast allen Zeitungen gepflegten und mantrahaft wiederholten, alten Ammenmärchen ausschließlich nordamerikanischer (und europäischer) Schuld für Lateinamerikas wirtschaftliche Unterentwicklung. Einige wenige Stimmen mahnen Selbstkritik an und weisen auf den paktierten, aber noch immer nicht verwirklichten Mercosur hin, Südsüdamerikas Zusammenschluss von Argentinien, Uruguay, Paraguay und Brasilien nach europäischem Vorbild.
Aber es gibt kein dèjá-vu-Erlebnis in diesen Tagen der offiziell gewordenen Weltwirtschaftskrise in Montevideo. Die historischen Bilder von Menschenschlangen Arbeitsloser vor Ämtern und Sparern vor Banken bleiben aus. Der Reisende bekommt auch immer noch anständige 2800 uruguayische Pesos für seine 100 €, der Preis für eine café solo springt ebenso wenig in astronomische Höhen wie die Lebensmittelpreise. Ist es nur eine virtuelle Krise? Oder fällt ein ohnehin »armes« Land wie Uruguay einfach nicht so tief wie die USA?
Wahr ist, dass deine Reise mit diesem Ereignis einen surrealen Unterton bekommt, der bis zum Ende der Reise nicht verklingen will. Die in den Zeitungen beschriebenen Ausmaße der Krise wollen nicht zu der Tatsache passen, dass du deine Reise problemlos fortsetzen kannst. Du fühlst dich wie ein Windreiter, der den Realitäten enthoben ist.
Beatriz Quirogos Anekdoten sind Palastmärchen für Kleinbürger, harmlose Vorläufer unserer Zeit der Tyrannei der Intimität. Sie erzählen unter anderem vom »Löcherbohrer, – perforador de agujeros, eine unverhohlen fröhlich-rohe, sexuelle Anspielung – der in den 80er und 90er Jahren sein allgemein goutiertes Unwesen trieb. In mehreren Wohnungen fanden sich in den hölzernen Eingangstüren mehrere säuberlich gebohrte Löcher, – von unten nach oben und in Reihe – die schmutzige Blicke ins intime Innere der Palastzimmer erlaubten. Jeden Morgen fanden sich neue Löcher. Nachdem man die Theorie, es müssten Holzwürmer gewesen sein, als abwegig aufgegeben hatte, einigten sich die Palastbewohner darauf, dass es sich um einen Voyeur handeln müsse, der die Stunden des Tiefschlafs nutzte, um sich zu vergnügen. Der Löcherbohrer wurde nie gefasst. Wollte man ihn überhaupt fassen? Eher scheint es so zu sein, als würde hier der verklemmte Katholizismus sein fröhliches Ventil für schlüpfrige Fantasien gefunden haben. Man konnte sich begehrt fühlen, ohne santiamén sagen zu müssen und hatte etwas zum Tratschen. Die verkitteten Löcher in den Holztüren allerdings lassen sich noch heute nachprüfen.
Ähnlich harmlos, aber für damalige Zeiten offenbar erheiternd, ist die Anekdote von Alfredito, der Fischotter, die ein Bewohner als Maskottchen hielt. Sie war aus einem höheren Stockwerk gefallen und »hatte eine alte Dame« niedergestreckt wie der Neffe der Zeitung mitteilte. Nach längeren Recherchen stellte sich jedoch heraus, dass Alfredito auf das Dach eines japanischen Autos gestürzt war. Der Neffe spekulierte auf Schadensersatz.
Das Ausmaß der Harmlosigkeit für erzählenswert gehaltener Anekdoten kündet von friedfertigen, unaufgeregten Zeiten und einem provinziellen Montevideo, in dem soziale Kontrollnormen noch wie in Jane Jacobs Beschreibungen intakter New Yorker Viertel funktionierten. Dass ein Mann den Palastbewohnern ungefragt täglich Zeitungen vor die Türen legte und dann am Monatsende zur Kasse bittet, trägt ihm den Ruf einer canallita ein, einer kleinen Kanaille. Ein Begriff, der im Spanischen sehr viel verächtlicher gemeint ist, als er im Deutschen klingt.
Von dieser provinziellen Harmlosigkeit ist auch heute noch etwas in Montevideo zu spüren und die Stadt überlässt gern und anscheinend ohne Minderwertigkeitskomplexe Buenos Aires das Etikett der glamourösen Weltmetropole. Wen es nach Hallygalli dürstet…, – bitte sehr – in drei Stunden Seefahrt erreicht er die eitle Schwesterstadt, von der man sich in langen historischen Kämpfen und Scharmützeln emanzipiert hat.
Woher nur nehmen die Uruguayer ihren Gleichmut und ihre Gelassenheit? Das Ländchen liegt zwischen Skylla und Carybdis, – Argentinien und Brasilien – zwei gefrässigen, an Ressourcen reichen Ländern. Politologen nennen Uruguay einen Pufferstaat. Es ist also immer gefährdet? Wie behauptet das paisito sich?
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