Dann hören die Gärten und großen Bäume am Straßenrand auf. Die kläffenden Taxihunde werden ruhiger und achten nun aufmerksam auf Schlaglöcher. Das Stadtviertel, durch das es nun geht, heisst Buceo. Auch hier geht es nicht über ein, zwei Stockwerke hinaus. Vorgärten sind selten oder winzig.
Der vorherrschende Farbton ist jetzt von grauem Verputz bestimmt. Eine leicht verhangene Morgensonne müht sich vergeblich, fröhlichere Farbtöne zu zaubern. Unerwartet springt das grelle Violett eines flachen Eckhauses ins Auge: ein Lebensmittelladen macht fröhlich auf sich aufmerksam. Gleich gegenüber kommen die gehetzten Hunde zur Ruhe, halten vor N.‘s Neuerwerbung, einem schmucklosen, soliden Flachbau mit kleinem Vorgarten und islamisch vergitterten Augen. Blassgrau, mit einem zagen Schuss Hellblau, passt es sich in das Graugrau der anderen Anlieger ein.
»Welcome home, mum!« sagt stolz die Tochter und führt M. behutsam die kleine Treppe hinauf ins Umzugschaos ihres erst vor einer Woche bezogenen neuen Heims. Kinderlärm. Gepäckaufbewahrung. Kaffeegeruch. Ein Begrüssungsweinchen. Reisebefindlichkeiten. Eine kleine Führung durch Haus und Hinterhofgarten: Farben! Ein knospender Advokadobaumriese. Ein blühender Feigenbaum neben einem spriessenden Zitronengewächs. Den grünen Rasen verschlingen Haufen von Bauschutt. M.‘s künftige Wohnstatt präsentiert sich als Skelett, das in den kommenden zwei Monaten neue Organe und frische Häute bekommen soll. T. fragt N. nach Preisen aus. Kaum angekommen, hat seine Recherche schon begonnen.
Warum gibt es hier so preiswerte Immobilien? Weil Uruguays Bevölkerung überaltert ist, junge Menschen keine Arbeit finden und migrieren, wenn sie können. Dann ein Satz, den ihr mehr als einmal hören werdet: »No hay plata en el Rio de la Plata.« Am Silberfluss gibt es kein Geld. Uruguays Zeiten als die »Schweiz Südamerikas« liegen weit zurück, sind Geschichte.
Noch einmal quetscht ihr euch an diesem Ankunftstag in Montevideo in ein enges Taxi. Gern hättet ihr den Fahrer angewiesen, den Weg zum Palacio Salvo im Stadtzentrum über die sieben Kilometer lange Promenade am »Meer« zu nehmen. Aber die Siesta ruft, Augen und Herz sind müde.
Je näher ihr ins Zentrum gelangt, umso grauer wird Montevideos Grau. Das Sonnenlicht bleibt fahl. Endlos zieht sich die Diagonale Fructuosa Rivera, eine der Hauptschlagadern der Stadt mit ihrem lebhaften Gemisch aus Wohnhäusern, Bars, Läden, Holzhändlern und fletes – Kleinspeditionen – hin. Man meint nie anzukommen.
Der erste Eindruck bleibt haften. Montevideo lebt mit einer Traurigkeit aus Grautönen.
Später, wieder daheim, findest du bei Uruguays bekanntesten literarischen Jornalisten, Eduardo Galeano, eine Erklärung. In dem gerade erschienen Buch Espejos (Spiegel), schreibt er: »Montevideo war nicht grau. Es wurde grau gemacht. Damals, um 1890, konnte einer der Reisenden, der die uruguayische Hauptstadt besuchte, ein Loblied auf die Stadt singen, wo lebhafte Farben triumphieren. Die Häuser hatten damals rote, gelbe, blaue Gesichter… Etwas später erklärten Besserwisser, dass dieser barbarische Brauch eines europäischen Volkes nicht würdig sei. Für einen Europäer – egal was die Landkarte sagte – musste man zivilisiert sein. Um zivilisiert zu sein, musste man ernst sein. Um ernst zu sein, musste man traurig sein. Zwischen 1911 und 1913 verfügten die Ordenanzen der Gemeinde dann auch, dass die Platten der Bürgersteige grau zu sein hatten und sie erließen obligatorische Normen für die Häuserfassaden. Es waren nur solche Farben erlaubt, die Baumaterialien imitierten, also im Allgemeinen ziegel- und steinähnlich.«
Dies war also zu den Zeiten britischen Kolonialismus. Auch ein anderer, der Maler Pedro Figari, machte sich über diese koloniale Dummheit lustig, vergisst aber nicht selbstkritisch anzumerken, dass es (wie in den meisten Ländern Südamerikas bei den Führungsschichten) eine unverhohlene Bewunderung für Französisches gab. »Die Mode fordert, dass sogar die Türen, Fenster und Jalousien grau zu streichen seien. Unsere Städte sollen wie Paris sein. Die leuchtende Stadt Montevideo: Sie überschmieren, sie zermalmen und kastrieren sie. Montevideo starb an der Kopierwut.«
Kapitel 3
Vivir en una utopía pérdida –
Wohnen in einer verlorenen Utopie
Wenig Aufmerksamkeit hast du dafür, dich über die Hausnummer 848 zu wundern, auf einem Platz mit etwas mehr als zwanzig Gebäuden. Den Plaza de Independencia, wo der Salvopalast steht, umrundet ihr zwei Mal, bevor ihr sie dann entdeckt: die Nummer 848 und Walter, der euch mediterran freundlich empfängt und sich als Verwalter des Appartements vorstellt, in dem ihr zwei Wochen wohnen werdet. Es gehört einem italienischen Ehepaar, das seine Palastwohnung im Austausch im Internet angeboten hat. Zu gegebener Zeit würden Guilio und Inez in T.‘s Wohnung in Andalusien gastieren.
Mediterran, familiär und spanisch ist auch euer Einzug in den Palast. In der schwach beleuchteten Empfangshalle mit riesigen vergilbten Sepiafotos vom Palast und einem Zeppelin, der an der Kuppel festgemacht zu haben scheint, hockt versteckt wie ein Äffchen der Palastportier. Walter erklärt wer wir sind. Nämlich gut zu behandelnde Mitbewohner auf Zeit, mit denen man nicht Englisch radebrechen muss. »Vienen de Andalucia ¿sabes?« Händeschütteln. Schulterklopfen. Ein ehrliches Lächeln. Und ein verstaubtes, dir nur noch aus Francozeiten erinnerliches »Siempre a sus ordenes« – Immer zu Ihren Diensten. Unentfernbarer Zeitstaub, den ihr nicht das letzte Mal hören werdet.
Vor den drei Fahrstühlen hängen zu dieser Tageszeit lange Menschentrauben herum. Die meisten sind betagt, tragen Baguettes. Damen mit Hündchen. Ein junges Mädchen in Jeans, ein Handwerker mit Werkzeugkasten. Jeder grüsst jeden, chiau chiau, seltener Buenos Días. Aber ¡Hola! Walter. Dem anschließenden Genuschel mit seinen vielen djos, djas, djis, djes, djus, die hier das spanische »«ll« und »y« verhunzen, kannst du nicht ganz folgen und nimmst dir vor, es nicht nachzuäffen wie der Clown in dir es verlangt.
Im Ton eines stolzen Palastpatrioten weist Walter uns auf das besondere Muster im Marmorteppich des quadratischen Flurs im 7. Stock hin. Jede Etage habe ein anderes, wir könnten uns also gar nicht verirren. Dann geht es einmal rechts, dann nochmal rechts einen endlosen, düsteren Flur entlang, an dessen dunklem Ende sich euer Wandervogelnest befinden soll.
Verwundert, ja leicht entsetzt, schaut ihr euch stumm an. Jede Wohnung hat vor der hölzernen Eingangstür noch eine eiserne Gittertür. Es sieht aus wie im Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses. Und diese massive Eisentür, die den langen Flur halbiert, die müsst ihr abends ab neunzehn Uhr abschließen. Ganz wie ein Gefängniswärter fischt Walter nun auch einen Ring mit unzähligen Schlüsseln aus seiner Jackentasche und löst vier davon für euch heraus. Dieser für die Eisentür im Flur, der für die Gittertür, dieser fürs Sicherheitsschloss und der für das Türschloss.
Warum nur überall diese schrecklichen Gefängnisgitter? Woher diese Obzession der Abschließung? Es gibt doch einen Pförtner? Nun ja, die Gittertüren stammen aus den Zeiten der Diktatur, als alles sehr unsicher war, die Leute einfach von Boldeberry‘s Häschern abgeholt wurden. »Ich selbst lebte damals in Australien. Ich bin erst vor zwei Jahren nach Uruguay zurückgekehrt.« Noch während Walter an den Schlössern fummelt, tut sich die Nachbartür auf, durch die sich mühselig ein dicker, aufgeschwemmter Körper zwängt. Eusebius lächelt breit und seine kleinen Rattenaugen mustern euch neugierig. Er ist Architekt, sein Sohn arbeitet in Madrid und seine Tochter ist Notarin und sie teilen sich diese Wohnung als gemeinsames Büro. Weitere Details seines Redeschwalls prallen an euch ab, ihr sagt chiauchiau und steht dann in der Wohnung.
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