So! Dies hier ist das, das dort ist dies, das dafür, hier der Hahn fürs Gas, der fürs Wasser. Alles ist da! Wenn ihr mich braucht, ich wohne in Zimmer 742 und hier ist meine Telefonnummer. Wir sehen uns später. Und weg ist Walter der weitgereiste Verwalter.
Die Wohneinheit mit etwa dreissig Quadratmetern hat mehr als ein Reisender braucht: Fernseher, DVD-Anlage, Radio, Mobiltelefon. Die abgetrennte Küche und das Bad sind komfortabel modernisiert, nichts lässt auf Althergebrachtes schließen. Ausser der polierte Holzfußboden. Der Wohnraum ist geschickt in zwei türlose Hälften aufgeteilt, es gibt Platz und Tische zum Schlafen, Essen, Lesen und Schreiben. Befreiend ist der Blick über die niedriger liegenden Häuser hinweg auf das trübbraune Delta-Meer des Rio de la Pata und seine Schiffe. Ungewohnt ist der heraufsteigende Verkehrslärm, das Dröhnen der vielen Busse, wenn du das Fenster öffnest. Wortlos nickt ihr euch zu, ja hier lässt es sich zwei Wochen aushalten. Einig seid ihr euch auch darüber, in diesen Tagen möglichst viel zu Fuß zu erkunden.
Aber jetzt ist erst einmal Siestazeit; bei geschlossenen Fenstern.
Obwohl hundemüde macht sich nach kurzem Einnicken die lauernde Unruhe dessen bemerkbar, der sich noch fremd fühlt. Im Ozean der unendlich vielen Zeichen suchst du Orientierung. Denn du gehörst nicht zu den Reisenden, die selbstherrlich davon ausgehen, alles sei für sie hergerichtet. Dein Blick gleitet über das Mobilar, die Zimmerausstattung, und du versuchst dir die Unbekannten vorzustellen, in deren Privatheit du jetzt bist.
Die gestylten, wegen ihres quadratischen Formats und ebenen Bodens unpraktischen Wasserbecken lassen eitle Formverliebtheit erkennen. Ein chromblitzendes Monstrum mit vier Etagen schwarzer Acrylglasplatten für die elektronischen Foltermaschinen steht deplaziert neben einem antiken Sekretär aus Nussbaumholz. Die spanische Trennwand und ein kleines Buffett zieren dick aufgetragene Schlieren chinesischer Ornamente: Drachen, Blumen, Wasserfallnachahmungen. Vögelchen! Die große Bücherwand aus weissem Resopal ist ein praktischer Raumaufteiler und dient zehn Büchern und persönlichem Klimmbimm und Nippes als Abstellplatz. Pragmatisches Funktionsdenken kontrastiert mit modernem Kitsch und zeugt vielleicht nur von dem Zwang, die Bude – irgendwie – eingerichtet haben zu müssen. Was weisst du schon über die Möglichkeiten in Montevideo, eine Wohnung auszustatten? Es ist die Behausung moderner Stadtnomaden, von Zugvögeln, die in globalen Fluglinien denken und auf mittelständische Komfortstandards Wert gelegt haben, die anderswo als unerschwinglicher Luxus gelten. Ihr Stil ist ein Nichtstil, die Wohnung ist ein Nichtort innerhalb eines historischen Ortes. Sie ist eine Investition, die den Salvopalast emotionslos als willkommene Wertsteigerung betrachtet.
Noch an demselben Tag geht ihr auf eine erste Erkundungstour und lernt, dass ihr das große Los gezogen habt. Das Zentrum ist hier wirklich Zentrum. In der pasiva, wie sie hier die Arkadengänge im Erdgeschoss des Salvopalates nennen, befinden sich ein Buchladen, eine Bar, ein Zeitungskiosk, eine Wechselstube und eine kleine Bude mit Mobiltelefonservice. Der Salvopalast nimmt fast einen ganzen Häuserblock – cuadra statt manzana sagen sie hier – ein, in dem sich alles findet, was Urbanität ausmacht: Apotheken, weitere Buchläden, ein Waschsalon, ein Lebensmittelgeschäft. In einem nahegelegenen Supermarkt deckt ihr euch mit allem ein, was ihr zur Selbstversorgung braucht und schlendert dann mit den Plastiktüten wie Hausfrauen, die auf ein Schwätzchen hoffen, einmal um den Unabhängigkeitsplatz.
Wie Mekkapilger, die ihre Gebetsrichtung suchen, diskutiert ihr, wo Osten ist. Die Mittagssonne steht hier im Norden. Von Süden weht der eiskalte Antarktiswind. Der Salvopalast liegt im Osten, unser Blick aus der Wohnung über den Platz geht also nach Westen. Abends, nicht wahr, hätten wir also zwar kostenlose Sonnenuntergänge, aber mittags kein Sonnenlicht. Rechts vom Salvopalast, also nördlich, reckt sich die einfallslose Fassade des Hotel Radisson, ein Chicagobau mit fünf Sternen. Mehrere fünfstöckige Bürgerhäuser schließen die nördliche Flanke, die im Westen auf die American Airlines und ein mehr als zwanzigstöckiges gläsernes Verwaltungsgebäude stoßen, das von Hunderten schnarrender Klimaanlagen benestert ist, die wie Pickel auf der Gesichtshaut eines Pubertierenden sitzen. In diesem Gebäude spiegelt sich die aufgehende Sonne. Das Beste was man von diesem Monster sagen kann. Zwei weitere Bauten aus der Hexenküche LeCoubusiers schließen den Platz im Süden ab. Auch sie jüngeren Datums und aus Glas und grauem Beton. Das eine wird seit fünfzehn Jahren »renoviert« und soll einmal Regierungssitz werden. Das andere nennt sich »Institut für Standardisierung«. Hier grübeln heute die Nachfolger jener, die laut Galeano Montevideo seine graue Zivilisationstünche verordneten.
Der Platz ist keine plaza im üblichen mediterranen Sinn, dazu fehlen ihm die Bars, Restaurants und kleine Läden, die Menschen zusammenbringen. Er lädt nicht zum Verweilen ein, denn in einem nicht endenden Korso umkreisen ihn unablässig Montevideos domestizierte Pampabullen mit ihrem Röhren und Brüllen und ihren Abgasen. Die hohen Gebäude vervielfachen das Echo ihres Getöses als sei das ihr vörderster Zweck. Im geometrischen Mittelpunkt des palmenbestandenen Gevierts ragt, reckt sich, erhebt sich einsam die Reiterstatue des uruguayischen Nationalhelden Artigas. Wie anderswo auch umflattern ihn die grässlichen Stadttauben, scheissen auf ihn und hören nicht auf, unzufrieden über ihn zu gurren. An Sonntagen jedoch, wenn der Platz still ist, kriechen mittags aus den Höhlungen des unterirdischen Mausoleums, auf dem das Denkmal ruht, blaugelbe Raupen in willkürlicher Unordnung hervor, sammeln sich dann in Reihen und entpuppen sich als Gardisten, deren Aufgabe es ist, Uruguays Nationalstolz mit quäkender Blasmusik wachzuhalten. Kaum ein Passant bleibt stehen oder nimmt gar seine Kopfbedeckung ab wie du es von sonntäglichen peruanischen Ritualen gelesen hast. Überhaupt, mit Artigas scheint es seine besondere Bewandtnis zu haben. Galeano: »Die Todesarchitektur ist eine militärische Spezialität. 1977 errichtete die uruguayische Diktatur ein Grabesmonument zur Erinnerung an José Artigas. Dieser riesige Unfug war ein Luxusgefängnis: es gab begründeten Verdacht, dass der Held eineinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod entkommen und wiederauferstehen könnte. Um das Mausoleum zu dekorieren und die Absicht zu verschleiern, suchte die Diktatur nach aussagekräftigen Sätzen des Helden. Aber dieser Mann, der die erste Agrarreform Amerikas durchgeführt hatte, der General, der sich »Bürger Artigas« nennen ließ, hatte gesagt, dass die Unglücklichsten die Privilegiertesten sein sollten; er hatte bekräftigt, er würde niemals unsere reichen Besitztümer zu Niedrigpreisen verkaufen und das eine ums andere Mal wiederholte er, dass seine Autorität aus dem Volk hervorgehe und das Volk die Grenzen ziehe.Die Militärs fanden keinen Satz, der ihnen nicht gefährlich geworden wäre. Sie entschieden, dass Artigas stumm gewesen sei.Auf den schwarzen Marmorwänden stehen nur Namen und Daten.«
Artigas war vereinsamt in Paraguay verstorben, wohin er sich nach seinen vielen erfolgreichen Feldzügen zurückgezogen hatte. Seine Statuen findet man auch in anderen Ländern des Cono de Sur, in Pampalandia. Sein geistiges Erbe – Landreform und demokratisch begründete Autorität – hält die Pampaländer nach wie vor in Atem. Sein Standbild und der Salvopalast symbolisieren auf diesem Platz den Kontrast zweier Utopien, die unterschiedlicher nicht sein können und doch unzertrennbar zusammengehören .
Der Salvopalast ist das kurios anmutende Produkt der »verrückten« 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ein durchgeknallter, nostalgischer Architekt mit Hang zur Bewunderung Mussolonis und gleichzeitig ein schwärmerischer Danteverehrer – Mario Palantini – und eine emigrierte, dann in Montevideo erfolgreiche Textil- und Weinfabrikantenfamilie aus Ligurien – Maria, Lorenzo, Jóse und Ángel Salvo Debenedetti – haben dieses mit Allegorien überfrachtete Gebäude gemeinsam in die damals prosperierende uruguayische Welt gesetzt.
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