Zahlreiche Arbeiten der noch jungen Disziplin der Tanzwissenschaft im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich hingegen weiterhin mit Tanz meist durch tanz- und theaterimmanente Perspektiven und Methoden.{23} Hier spielen Prozesse und institutionelle Einbettungen nur eine periphere Rolle. Erst einige wenige Studien richten ihren Fokus dagegen auch auf ökonomische, soziale oder politische Rahmenbedingungen, beispielsweise aus einer historiographischen oder soziologischen Perspektive.{24} Mit dem Sammelband Choreographie und Institution haben die Tanzwissenschaftlerin und Choreographin Yvonne Hardt und der Sportwissenschaftler und –pädagoge Martin Stern erstmals dezidiert die institutionelle Verortung von Tanzpraktiken herausgestellt.{25} Solche Studien, die Tanz als politisch, sozial und institutionell fundiert denken, dienen als Ausgangspunkt dieser Arbeit, denke ich doch auch die Herstellungsprinzipien der untersuchten Projekte als institutionell geprägt und distanziere mich damit von einem ontologischen Tanzverständnis.{26}
Fragen nach postkolonialen Dimensionen von Produktions-, Aufführungs- und Rezeptionsmechanismen im Tanz werden in der deutsch- und englischsprachigen Tanzwissenschaft eher sporadisch gestellt. Stellenweise werden in solchen Studien zwar globale oder postkoloniale Zusammenhänge beleuchtet, nicht aber die eigene Theoriebildung in Hinblick auf eine postkoloniale Haltung konsequent kritisch reflektiert. Hierzu zähle ich beispielsweise AutorInnen wie die amerikanische Tanzhistorikerin Janet O’Shea oder die in Deutschland und Großbritannien arbeitende Tanzwissenschaftlerin Sabine Sörgel. O’Shea untersucht in ihrer Monographie At home in the world: bharata natyam on the global stage Bharata Natyam auf seine globale Verortung hin und verfährt mit den theoretischen Kategorien des Transnationalismus und Lokalität.{27} Sörgel stellt in ihrer Studie Dancing Postcolonialism Fragen nach Identität und Hybridität in Bezug auf die National Dance Theatre Compagnie aus Jamaica.{28}
Vielmehr orientiere ich mich in dieser Arbeit an Positionen, die eine reflexive und wissenschaftskritische Stoßrichtung haben. Hardt betont in ihrem Artikel Staging the Ethnographic, wie Zeitgenössische „westliche“ Tanzpraxis nur selten mit postkolonial motivierten Fragen operiert.{29} Anhand von Stücken von Jérôme Bel und Eszter Salomon untersucht sie das jeweils spezifisch Ethnographische der Stücke und stellt Fragen danach, welche Implikationen deren Repräsentationsmodus hat. Dieser Artikel ist ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der Inszenierung von Fremdheit im Zuge europäischer Zeitgenössischer Tanzproduktion und dient der vorliegenden Studie bezüglich der postkolonialen Verortung europäischer ChoreographInnen als Vorlage, gerade in Hinblick auf meinen Anspruch, keine Dichotomien zwischen „traditionell“ und „zeitgenössisch“, oder „fremd“ und „westlich“ zu postulieren und fortzuschreiben. Auch die Anthropologin Marta Savigliano beschäftigt sich reflexiv und wissenschaftskritisch anhand von Tango Argentino mit postkolonialen Fragestellungen.{30} Die amerikanische Tanzwissenschaftlerin und Choreographin Susan Foster hat außerdem den Sammelband Worlding Dance herausgegeben und darin Beiträge versammelt, die sich ethnographisch mit Tanz beschäftigen und dieses Vorgehen auf koloniale Prinzipien hin theoretisch befragen.{31} Diesen Studien schließe ich mich insofern an, als ich eine postkolonial-kritische und selbstreflexive Haltung meiner eigenen Arbeit gegenüber einnehme sowie einen postkolonial-diskurskritischen Blick auf Zuordnungen und Festlegungen vollziehe, die in meinen Beispielen eine Rolle spielten.
Auf der anderen Seite setzt sich die deutschsprachige und europaweite Ethnologie kaum mit dem Forschungsgegenstand Tanz auseinander. Einige wenige Untersuchungen beschäftigen sich mit Tanz bezüglich seiner rituellen, kontextuellen oder institutionellen Dimension, klassischerweise in von den ForscherInnen geographisch entfernten Regionen, bei Migrationsgemeinschaften oder in sogenannten „Volkstanz“-Kulturen im Residenzland der Ethnographin / des Ethnographen.{32} Dieser thematische Fokus befragt dabei selten koloniale Repräsentationsmechanismen von Fremdheit im Rahmen der Tanz- und der Wissenschaftspraxis. Vielmehr laufen solche Studien oftmals Gefahr, diese Mechanismen weiter zu konsolidieren.{33} Die Vorliegende Studie entzieht sich bewusst dieser Thematik und nimmt stattdessen das Konzept der Fremdheit selbst in den Blick, um es auf seine politischen Implikationen hin zu untersuchen.
Eine Verschränkung von ethnographischen und tanzwissenschaftlichen Methoden und Perspektiven (ähnlich wie die bereits erwähnte deutschsprachige Studie von Pirkko Husemann) lässt sich vereinzelt in der anglophonen Tanzwissenschaft finden. Exemplarisch für eine solche Verbindung ist die Studie Sharing the dance der amerikanischen Kulturanthropologin Cynthia Novack, die soziale Konstellationen in der Szene der Kontaktimprovisation in den USA untersucht.{34} Die schwedische Sozialanthropologin Helena Wulff beschäftigt sich in ihrem Buch Ballet across borders mit Biographien professioneller BalletttänzerInnen in ihrem kulturellen, transnationalen Umfeld.{35} Allerdings steht auch im Feld englischsprachiger Publikationen eine ethnographische Untersuchung aktueller Tanzstücke, die sich mit Globalisierung und der Inszenierung von Fremdheit beschäftigen, noch aus.
Einige Positionen innerhalb des Kanons Postkolonialer Theorien beschäftigen sich mit Fragen nach Fremdheit, Globalisierung und Kultur.{36} Dabei ist hier selten ein körpertheoretischer Ansatzpunkt zu finden. Indem bestimmte Themenstellungen und Methoden gewählt werden, verbleibt der Körper hier weiter außerhalb der Theorie.{37} Die vorliegende Studie greift dieses Desiderat auf und setzt den Körper als zentrale theoretisch-methodologische Analysekategorie. Auch Bewegung als Analysekategorie spielt im Rahmen Postkolonialer Theorien nur bezüglich migrationsthematischer Zusammenhänge eine Rolle, nicht aber in Hinblick auf die Strukturiertheit von Bewegung selbst und ihre performativen Implikationen, wie ich sie hier nutze.
Ich verwende in dieser Arbeit eine körper- und bewegungszentrierte Perspektive als methodologischen Ausgangspunkt bei der Frage nach Globalität und Tanz und verfahre körperorientiert und praxeologisch, um die Herstellung von Globalität über Praktiken zu untersuchen.
Dabei findet ein Zusammendenken von Bewegung als ästhetische wie auch als soziale Kategorie statt. Diese Koppelung hat auch die Soziologin und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein an mehreren Stellen angebracht, beispielsweise in ihrer Untersuchung von weltweiten Wanderbewegungen von Tango Argentino in Tango in Translation oder im Sammelband Bewegung: Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte. Dieses Zusammendenken von Bewegung als sozialer und ästhetischer Kategorie soll hier weitergedacht und auf Globalisierungsprozesse angewandt werden.{38}
Ich führe im Verlauf dieser Arbeit diverse theoretische Konzepte ein, die ich dann an den jeweiligen Stellen ausführlich bespreche und in ihrem wissenschaftlichen Kontext verorte.
1.2 Institutionelle Rahmungen
Ich möchte in dieser Arbeit die Verortung der Projekte in institutionellen Bezügen hervorheben, ist es doch gerade in Hinblick auf eine postkoloniale Analyse zentral, die Projekte politisch zu denken und mich nicht Vorstellungen „reiner Kunst“ anzuschließen, die die Bedingungen der Kunstproduktion außen vorlässt. Ich beziehe mich auf den Institutionsbegriff von Hardt und Stern in „Choreographie und Institution“, die Institution als Suchbegriff bestimmen, „um Strukturen und Regelsysteme
...
Rahmungsstrategien und Produktionsweisen von Kunst sowie deren Vermarktung in den Blickpunkt zu rücken.“{39} Die Situiertheit der untersuchten Projekte in solchen Strukturen und Regelsystemen fließt in die Forschung und Analyse mit ein.
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