Unterwegs hatte ich Zeit, sie zu betrachten und so ist sie mir in Erinnerung geblieben: Ende zwanzig mit einer guten Figur, hübschem Gesicht und freundlichen blauen Augen, blond, schlank und sehr gebildet. Sie war etwas größer als ich und hatte alles, wovon ein junger Seemann nur träumen konnte. Als wir uns einem der gemütlichen Cafés näherten, kam ich in große Verlegenheit, denn ich hatte von den 2 ½ Gulden, die der Alte mir gegeben hatte, nur noch ½ Gulden, also 50 Cent übrig. Damit konnte ich keine Dame einladen. Daisy, die Eis witterte, zog nun ganz wild an der Leine und ich wurde noch verlegener, bis „Meisje“, das holländische Wort für Mädchen, mich fragte: „Was ist denn mit dir los, Seemann, stimmt etwas nicht?“ Ich druckste herum und gestand ihr schließlich verlegen, dass ich nur noch 50 Cent hätte und dies für uns drei doch wohl etwas zu wenig sei. Darüber musste sie herzlich lachen und sagte: „Da muss wohl die reiche Dame den armen Schiffsjungen und den armen Bordhund einladen.“ Ich berichtete ihr, wie ich bei meinen Großeltern und meiner Tante aufgewachsen war und wie es bei uns an Bord zuging. Sie erzählte mir, wie sie bei dem großen Bombenangriff auf Rotterdam, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren, bei ihrer Tante zu Besuch gewesen war und vom Tod ihrer Eltern später erfahren habe. Ihre Eltern wären bis zur Unkenntlichkeit verbrannt gewesen, und auch sie sei von ihrer Tante großgezogen worden.
Daisy und ich hatten jeder eine riesige Portion Eis gegessen, während „Meisje“ nur eine Limonade getrunken hatte. Die Zeit verging wie im Fluge. Als wir aufbrachen, war es schon um Mitternacht, aber wir hatten es nicht sehr weit zu ihr nach Hause. Es war eine eigenartige Situation, zwei Menschen und ein Hund in einer großen Stadt, die sich vorher nie gesehen hatten, die aber durch einen merkwürdigen Zufall an diesem Tag zusammengefunden hatten. Ich schildere dies alles so ausführlich, weil dieser Tag in meinem Leben einen bleibenden Wert in meinen Erinnerungen hat, den ich nie vergessen werde. „Meisje“ lebte in einer großen Wohnung mit hohen Fenstern. Sie hatte sie von ihrer Tante geerbt. Ehrfürchtig betrachtete ich das große Sofa, die antiken Möbel im Wohnzimmer, die alten Gemälde an der Wand, das große Bett im Schlafzimmer. Im Vergleich mit unserem winzigen Logis unter der Back kam ich mir in dieser Wohnung wie in einem Palast vor. Daisy, von dem vielen Eis ermattet, ließ sich auf einem der weichen Sessel nieder und war kurz darauf eingeschlafen. „Meisje“ kochte uns starken Tee und fragte mich, wie ich an Bord genannt werde. Ich erzählte ihr, dass Schiffsjungen an Bord nicht mit Namen gerufen werden, sondern allgemein Moses. Da wir aber schon einen solchen hätten, würden mich alle „Seemann“ nennen. Nur der Steuermann nannte mich aus einem mir unerklärlichen Grund „Edsche“.
Sie sagte mir, dass ihr Moses am besten gefiele und fragte mich, ob ich als Seemann schon viele Mädchen geküsst habe. Um meine Männlichkeit zu beweisen, gab ich natürlich furchtbar an, was für ein toller Kerl ich manchmal sei. Sie lachte mich an und sagte plötzlich: „Dann küss mich doch, Moses. Aber irgendwas machte ich dabei verkehrt, denn sie lachte entzückt und sagte wörtlich: „Aber doch nicht so, Moses. Das müssen wir erst richtig lernen.“ Sie war eine gute Lehrmeisterin und mir tat sich eine Welt auf, von der ich immer nur an unserer Back (Tisch) von den anderen beim „Thema 1“ gehört hatte, aber bislang nie selbst erleben durfte. „Meisje“ brauchte mich wegen meiner jugendlichen Unschuld und ich sie wegen ihrer fraulichen Reife und Erfahrung. Es war für mich wie ein Traum. Aber nach jedem Traum gibt es ein Erwachen und als ich irgendwann in der Nacht aufwachte, dachte ich mit Schrecken an den Alptraum, der mich an Bord erwartete. Der Gedanke an den Alten, der auf seinen Hund und mich wartete, machte mich ganz krank. Ich weckte Daisy, die ganz fest schlief, leinte sie an und „Meisje“, die inzwischen wach war, brachte mich zur Tür. Dort küsste sie mich und sagte: „Moses, wenn du morgen noch hier bist, komm bitte wieder. Ich brauche dich, ich brauche dich wirklich, versprich es mir. Wenn ihr auslaufen solltet, so versprich mir, dass du mich, wenn dein Schiff wieder nach Rotterdam kommt, sofort besuchst.“ Ich versprach es ihr, aber wie das Schicksal es wollte, kamen wir nicht wieder nach Rotterdam, und ich sollte sie nie wiedersehen.
Mit bangem Gefühl machte ich mich mit dem Hund auf den Weg zum Schiff und richtig, ich hatte die Gangway nicht ganz betreten, als der Alte wie ein böser Giftzwerg aus dem Ruderhaus geschossen kam und schrie: „Daisy, ist dir auch nichts passiert?“ Dann kam ich dran: „Wo kommst du denn her, du Wichskopf“, brüllte er mich an, „weißt du überhaupt, wie spät es ist? Ich erzählte ihm, dass wir uns in der Innenstadt verlaufen und erst jetzt den Weg zurückgefunden hätten. „Verlaufen“, schrie er, „Mensch, du stinkst wie eine indische Tempelhure. Du hast doch wohl nicht den Hund mit in den Puff genommen? Und dann mit entsetzter Stimme: „Du perverser Wichskopf, du hast doch den Hund beim Ficken zuschauen lassen. Mensch, der Hund stinkt ja nach Puff. Durch das Gebrüll des Alten fing Daisy furchtbar zu bellen an, und der Alte wurde immer wilder. Der Skipper einer britischen Jacht, die hinter uns lag, kam an Deck gestürzt, um zu sehen, was los war und schimpfte dann über den Alten wegen der nächtlichen Ruhestörung. Ich verzog mich, während der Alte mit dem Skipper diskutierte, unter die Back, wo die anderen noch alle wach waren. „Mensch Seemann, wo kommst du denn her?“, rief Günther. „Der Alte spielt schon die ganze Nacht verrückt. Alle Augenblicke kam er hereingestürzt und schrie: „Hoffentlich ist Daisy nichts passiert!“ Hundepint wollte von mir wissen, bei welcher Nutte ich geschlafen hätte, aber ich blieb bei meiner Darstellung, dass ich mich verlaufen hätte, was mir aber keiner abnahm. Am nächsten Morgen kam komischerweise nichts danach und der Alte schnitt das Thema nicht wieder an. Nur der Steuermann fragte mich lüstern: „Na Edsche, hast du einen weggesteckt? Hat sie wenigstens einen schönen Titt gehabt?“ Ich aber blieb bei meiner Geschichte, dass ich mich verlaufen hätte.
Gegen Mittag bekamen wir Order für einen neuen Ladehafen und liefen gleich danach aus. Ich sollte „Meisje“ also nicht wiedersehen. Waren wir bislang alle Augenblicke nach Rotterdam gekommen, fuhren wir, so wollte es das unabänderliche Schicksal, nie wieder hin. Es sollte für mich und „Meisje“ nur diese eine Nacht gegeben haben.
Die Zeit verging, und eines Tages musterte der befahrene Moses ab und ein neuer Schiffsjunge mit Namen Peter kam an Bord. Somit wurde ich dienstältester Moses, behielt aber meinen Spitznamen „Seemann“. Peter war unbefahren und musste nun die gleiche bittere Anfangszeit durchstehen wie ich zuvor. Auch unsere üblichen Neckereien musste er über sich ergehen lassen, etwa den Auftrag, den „Kompassschlüssel“ zu holen, den es natürlich nicht gab. Oder er musste nach einer ominösen „Postboje“ Ausschau halten. Peter war ein dunkelhaariger kräftiger Bursche von 17 Jahren, den nichts aus der Ruhe bringen konnte und der ein unwahrscheinlich dickes Fell hatte. Den konnten selbst der Alte und der Steuermann nicht erschüttern.
Ich lernte inzwischen alle seemännischen Arbeiten an Deck, konnte Segel nähen, Tauwerk und Draht spleißen und sogar die Hauptmaschine und die Motorwinden „anschmeißen“. Letzteres war im kalten Winter eine umständliche Arbeit, die wir alle hassten. Sollte etwa im frostigen Winter um 8 Uhr mit den Winschen, wie die Motorwinden seemännisch hießen, gearbeitet werden, mussten wir bereits um 6 Uhr aufstehen und kochendes Wasser in die Kühlwassertanks schütten. Durch besonders brennende Lunten, die wir „Zigaretten“ nannten, und langes Drehen mit der Handkurbel musste dann der Motor gestartet werden. Es konnte unter Umständen sehr lange dauern, bis der Motor in der Kälte endlich ansprang. Manchmal federte die Kurbel plötzlich zurück und man bekam einen heftigen Schlag, der, wenn man nicht aufpasste, einem den Arm brechen konnte. Als Moses waren wir mächtig stolz, wenn es uns entgegen den gesetzlichen Bestimmungen erlaubt wurde, die Winden zu bedienen. Diese Arbeit war in der Regel nur Vollgraden gestattet.
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