Mein Studienjahrgang (1954 – 1957) reduzierte sich nach drei Jahren bis zu den Prüfungen zur Hochschulreife von anfangs 11 Seminargruppen auf 7 Gruppen. Zwischenzeitlich wurden immer einige Gruppen aufgelöst und die verbliebenen wieder aufgefüllt. Ich gehörte im 1.Halbjahr an der ABF zum untersten Drittel bei der Leistungsübersicht. Abgesehen von meinen bescheidenen schulischen Voraussetzungen fand ich keinen richtigen Rhythmus, um in der Freizeit Selbststudium zu betreiben und 5 bis 6 Stunden lang dem Unterricht aufmerksam zu folgen. In den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern und in der Fremdsprache konnte ich die Anforderungen anfangs nur schwer erfüllen. Mein fester Wille, den selbst gewählten Weg, der zu einem neuen Beruf führen sollte, erfolgreich abzuschließen, war letztlich die Ursache, dass die Leistungen besser wurden und ich mit durchschnittlich guten Zensuren das 1. Studienjahr an der ABF abschließen konnte. Auf keinen Fall wollte ich entweder in das Kaliwerk oder in die Tischlerei zu den ehemaligen Kollegen zurückkehren und mitteilen müssen: Mein Ziel war zu anspruchsvoll, ich habe das Studium nicht geschafft! So wurde eine eventuelle Blamage vor Kollegen, Bekannten, Sportfreunden und Verwandten zu einem weiteren Antrieb, das Lernen zu intensivieren und zunächst die Hochschulreife zu erreichen. Das gelang mir in den noch bevorstehenden zwei Studienjahren. Mit der Gesamtnote „gut“ erhielt ich im Juli 1957 das Abiturzeugnis mit der Unterschrift des damaligen Direktors der ABF, Horst Hecker, überreicht. Mit den Seminargruppenmitgliedern wurde dieses Ereignis ausgiebig gefeiert, bevor jeder in seinen Heimatort zurückkehrte, mehrere Wochen Urlaub verbrachte und sich gedanklich auf das Hochschulstudium vorbereitete.
Die Jahre an der ABF, wie sie Herrmann Kant in seinem Roman „Die Aula“ treffend beschrieben hat, konfrontierten uns Studenten auch mit politischen Ereignissen, Verhältnissen und Situationen, die gerade in den 50er Jahren das gesellschaftliche Leben in der DDR umfangreich prägten. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) spielte unter der Jugend dabei eine dominierende Rolle, somit auch bei uns an der DHfK. Schon in der ersten Woche des Studiums trat die FDJ-Leitung der ABF an unsere Seminargruppe heran mit der Erwartung, eine FDJ-Gruppe zu bilden. Es war allgemein üblich an den höheren Bildungseinrichtungen, dass eine Seminargruppe gleichzeitig identisch mit einer FDJ-Gruppe gewesen ist, die Basis des strukturellen Aufbaus der FDJ insgesamt. Wir fanden uns zusammen und wählten die FDJ-Gruppenleitung, die aus drei Studienfreunden bestand, ein Mitglied der Leitung übernahm die Funktion des FDJ-Sekretärs der Gruppe. Auf die personelle Auswahl der FDJ-Gruppenleitung hatten wir verständlicherweise geringen Einfluss, wir kannten uns ja kaum. Die übergeordnete Leitung der FDJ und unser Seminarbetreuer, Herr Becher, machten deshalb auf der Grundlage der Bewerbungsunterlagen der einzelnen Studenten die Vorschläge. Inhalt, Aufgaben und Wirksamkeit der FDJ lernte ich das erste Mal unmittelbar an der ABF in meiner Seminargruppe kennen, obwohl ich bereits im Rahmen einer Delegation der BSG „Aktivst“ Bleicherode und Mitglied der FDJ am 1.Deutschlandtreffen der Jugend vom 27. bis 30. 05. 1950 in Berlin teilgenommen hatte. Die Reise zu diesem Treffen war auch der konkrete Anlass, mir das Blauhemd, das zu FDJ-Veranstaltungen und besonderen politischen Anlässen getragen wurde, anzuschaffen. Die FDJ war seit ihrer Gründung bis zur Auflösung 1989/90 in ihrer Hauptzielstellung eine politische Organisation mit antifaschistisch-demokratischer und sozialistischer Grundorientierung. Den politischen Zielen der SED stand sie stets sehr nahe, vereinigte aber in ihren Reihen auch Jugendliche aller sozialen, politischen, ideologischen und religiösen Schichten der Bevölkerung. Es war der einheitliche sozialistische Jugendverband der DDR, der aber ein breites Spektrum von politisch-ideologischen Auffassungen in sich vereinigte. Besonders in den letzten beiden Jahrzehnten hatte die SED-Führung durch ihren Einfluss diesen ursprünglichen Charakter der FDJ verändert und einseitig auf ihre eigenen politischen Ziele festgelegt, indem sie den Jugendverband als „Kampfreserve der Partei“ betrachtete. Manch Jugendlicher fühlte sich dadurch in seiner Meinungsbildung eingeengt, ging auf Distanz zur FDJ oder wandte sich ganz ab. Bestimmte Einschätzungen, die nach der Wende von Politikern, Publizisten und Journalisten über den Jugendverband der DDR und ihre Arbeitsweise veröffentlicht worden sind, reduzierten die FDJ aber nur auf die politischen Aufgaben, die von der SED in den Jugendverband hineingetragen worden sind. Das widerspiegelt nicht annähernd die Wirklichkeit. Die FDJ-Arbeit, insbesondere in den Basisgruppen, war bedeutend umfassender als sie oftmals dargestellt wurde. Von dem, was die Gruppe selbst und ihre Funktionäre planten und realisierten, war das Leben in der FDJ vor allem abhängig. Diskussionsrunden zu aktuellen politischen und kulturellen Problemen, Film- und Theaterbesuche, Tanz- und Faschingsveranstaltungen, Sportwettkämpfe, gemeinsame Reiseerlebnisse waren keine Seltenheit und vielfach Hauptgegenstand der Zusammenkünfte der FDJ-Mitglieder. Mit diesen Inhalten gestalteten wir auch die FDJ-Arbeit in der Seminargruppe an der ABF und in den späteren Jahren im Hochschulstudium. Mehr oder weniger arbeiteten alle mit. Die FDJ-Gruppe und ihre Funktionäre waren legitimiert, bestimmte Probleme mit den Lehrkräften und mit der Direktion zu besprechen und mit zu entscheiden, die das Studium und andere Lebensumstände des Studienalltags betrafen. Sie hatten demokratisches Mitsprache - und Stimmrecht bei der Zuerkennung oder Ablehnung von Leistungsstipendien. Vertreter der Studierenden als FDJ-Mitglieder wurden in den Senat, in den Wissenschaftlichen Rat und in weitere Leitungsgremien der Hochschule gewählt und waren in dieser Eigenschaft stimmberechtigt. Die FDJ-Gruppe wirkte auch als Motor bei der Bewältigung von Studienaufgaben, indem sie sich besonders jenen Studenten zuwandte, die Schwierigkeiten im Studium hatten, ihnen Hilfe anboten und sie dann auch organisierte. Ein festes Kollektiv bildete sich heraus. Während der gesamten Studienjahre gehörte die FDJ-Gruppe einfach dazu, sie hatte ihren festen Platz im studentischen Leben gefunden. Kaum lehnten Studenten den Jugendverband in seiner Wirksamkeit ab oder beteiligten sich nur begrenzt an seiner Arbeit. Diese Auffassung gründet sich auch auf Erlebnisse und Erkenntnisse meines Hochschulstudiums, wo die FDJ die gleiche Funktion erfüllte wie an der ABF.
In den ersten Wochen des Studiums wurden wir neu immatrikulierten Studenten mit der Hochschulsportgemeinschaft (HSG) der DHfK, ihren Sektionen und ihrer Arbeitsweise bekannt gemacht mit dem Ziel, uns für eine Mitgliedschaft in der HSG zu gewinnen. Sie war im Prinzip mit einer Betriebssportgemeinschaft (BSG) gleichzusetzen, die Hochschule war in diesem Fall der Träger. Da alle Seminargruppenmitglieder vor dem Studium eine Sportart aktiv betrieben hatten, war es in der Regel folgerichtig, Training und Wettkampf in der HSG fortzusetzen. Die meisten meiner Studienkollegen entschieden sich für eine Mitarbeit in der HSG, obwohl es keine Pflicht gewesen ist, einige blieben Mitglied ihrer BSG in den Heimatorten. Ich erhielt eine Einladung für ein Probetraining der Sektion Fußball. Wie etwa 30 bis 40 weitere ABF-Studenten fand ich mich auf der Festwiese dazu ein. Die Leiter dieses Auswahlprozesses waren Lehrkräfte des Institutes für Sportspiele der DHfK, Ernst-Günter Degel und Herbert Klemig. Meine Fertigkeiten als Fußballspieler waren ausreichend, um in eine neu aufzubauende HSG-Mannschaft, die vorrangig aus ABF-Studenten bestehen sollte, aufgenommen zu werden. Überrascht wurde ich von der Tatsache, dass die Studenten, die in einer Sektion der HSG trainierten und Wettkämpfe bestritten, eine etwas bessere Vollverpflegung in der Mensa erhielten, ohne eigene zusätzliche Kosten. Mit einer Bescheinigung vom Sektionsleiter und Trainer erhielten wir HSG-Sportler andersfarbige Essenmarken, die zum Empfang dieser gesonderten Verpflegung berechtigten. Wie lange diese Regelung in Kraft war, kann ich rückschauend nicht mehr sagen. Unsere Mannschaft nahm am Wettspielbetrieb im Rahmen der in Leipzig existierenden Leistungsklassen teil. Außer Spielkleidung und Fahrgeld für die Straßenbahn oder den Bus konnte uns die HSG keine weiteren Mittel zur Verfügung stellen. Wir waren im echten Sinne Amateure. Unser Leistungsniveau reichte, um in den Stadtklassen in Leipzig zu bestehen. Nur einmal in der Woche wurde trainiert, mehr war unter den Studienbedingungen nicht möglich. Oftmals kam es zu Missverständnissen mit unseren Gegnern in der Stadt. Sie waren der Meinung, die Fußballmannschaften der DHfK trainieren unter professionellen Bedingungen. Verschiedentlich bestand in Leipzig in dieser Zeit die Auffassung, an der DHfK werden Sportler auf hohe sportliche Leistungen für nationale und internationale Wettkämpfe vorbereitet. Der Sportclub der DHfK wurde mit der akademischen Ausbildungsstätte DHfK anfangs verwechselt. Aus diesem Grunde wurde uns manchmal zugerufen: „Jetzt kommen die Profis!“. Das Gegenteil war der Fall. Unsere Gegner gehörten überwiegend zu großen Betriebssportgemeinschafen der Stadt mit erheblich besseren Bedingungen und Förderungsmaßnahmen als in der HSG der DHfK. Mit dieser Problematik mussten wir und alle weiteren Generationen von Sportstudenten der DHfK fertig werden. Das Argument, an der DHfK würden nur Profis Sport treiben, hat aus Einsicht in die tatsächlichen Gegebenheiten und durch Aufklärung in der Bevölkerung schrittweise abgenommen und war später nur noch selten zu hören. Bei Heimspielen, die wir auf einem Fußballplatz austrugen, wo jetzt die Mehrzwecksporthalle „Arena“ steht, waren nur wenige Zuschauer, meistens Studenten anwesend. Dazu gehörte fast ständig ein Herr Edgar Külow, damals Kabarettist an der Leipziger Pfeffermühle. Er wohnte im Leipziger Waldstraßenviertel und erheiterte mit seinen frechen Sprüchen alle Anwesenden. Es war eine Freude, ihm zuzuhören, er entwickelte eine besondere Beziehung zu uns Studenten.
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