Eine Wand des Cottages war halb eingedrückt, das Dach eingestürzt. Gebückt blickte er durch ein Fenster in das überraschenderweise nahezu unversehrte Zimmer. Mit Mühe schob er sich hinein und suchte nach einem Lebenszeichen. Nachdem er sich sicher war, dass sie sich während der Katastrophe nicht im Haus aufgehalten hatte, kramte er die Umhängetasche unter dem Bett hervor, in der sich etwas Geld und die Papiere befanden. Schließlich zwängte er sich wieder ins Freie und sah sich um. Keine Spur von Rieke. Er schloss sich nun den anderen verzweifelten Menschen, die auch auf der Suche nach Angehörigen durch die zerstörte Anlage irrten. Sein Weg führte ihn schließlich zu einem Cottage, dessen komplette Vorderfront von den Wellen herausgebrochen worden war. Als Klaas beiläufig in die Ruine schaute, erblickte er in dem Chaos aus umgeworfenen Möbeln, Kleidung und Schlamm einen schmalen Koffer, der beschienen von einem vereinzelten Sonnenstrahl wie der wahrhaftige Heilige Gral aussah. Klaas hätte in diesem Moment weiter nach Rieke suchen sollen, zum Zentralgebäude zurückgehen oder den vielen Verletzten zur Hilfe eilen sollen, doch er tat nichts dergleichen. Er stand nur da und begaffte den Koffer, während seine Gedanken Amok liefen. Gestern habe ich ihn schon einmal gesehen, dachte er, und da war er voller Geld gewesen. Es war, als stände er noch unter Schock, wäre nicht er selbst, der in diesem Moment auf das fremde Cottage zusteuerte und ungelenk über den Schuttberg in das offene Zimmer stieg. Ein kurzer Blick zurück zeigte ihm, dass man seinem Handeln in dem allgemeinen Trubel keinerlei Beachtung schenkte. Er wusste sehr wohl, dass es nicht rechtens war, was er hier tat, aber es war wie bei einem neugierigen Kind, das nicht eher ruhte, bis es den verbotenen Gegenstand einmal in den kleinen Händen gehalten hatte. Zielstrebig watete er durch den knöcheltiefen Matsch im Zimmer, bis er schließlich vor dem schmalen Hartplastikkoffer stand. Klaas nahm ihn hoch, als wäre es der zerbrechlichste Gegenstand der Welt, und betrachtete ihn ehrfürchtig. „Hat mir das Schicksal vielleicht diesen Koffer geschenkt?“, fragte sich Klaas unwillkürlich und strich gedankenverloren über dessen glatte Oberfläche. „Warum wurde er nicht fortgespült oder unter dem Müll begraben? Und wer sollte jetzt noch daran zweifeln, dass der Koffer ein Opfer der Welle geworden und für immer unauffindbar im Meer verschwunden ist?“, dachte er und schämte sich sofort seiner frevelhaften Gedanken. Dennoch stellte Klaas den Koffer nicht etwa wieder zurück, sondern ging langsam den Weg zurück, auf dem er gekommen war. Als hätte eine höhere Kraft Klaas auf der Stelle für seine schamlose Tat bestrafen wollen, erhob sich in der Anlage von Neuem ein panisches Geschrei, das ihn abermals zusammenzucken ließen. Klaas meinte die Worte „zweite Welle“ vernommen zu haben und kletterte hastig über den Schuttberg zurück auf die Holzveranda. Tatsächlich war wieder ein unheilverkündendes Grollen vom Strand her zu vernehmen. Dieses Mal noch lauter, noch wütender als zuvor. Kaum hatte sich Klaas zur erneuten Flucht entschlossen, als ihn eine meterhohe Mauer aus Gischt wie eine eiserne Faust packte und unter Wasser drückte. Im Trüb dieses Moments sah er unzählige Gegenstände gefährlich nahe an sich vorbei zischen. Der Mangel an Atemluft ließ seine Lunge brennen. Das allgegenwärtige Brodeln der Fluten schrie ihn an. „Dieb. Elender Dieb. Dafür wirst du sterben.“ Die Welle war so gewaltig, dass er sich dem Unausweichlichen nicht erwehren konnte. Ab und zu tauchte er auf und blickte in das unschuldige Blau des Morgenhimmels zwischen den zuckenden Palmenwedeln, als wollte ihm das Schicksal in einem bösen Streich noch einmal die Schönheit dieser Welt zeigen, ehe alles zu Ende war. Denn keinen Atemzug später riss ihn das Meer wieder hinab und wirbelte ihn herum, bis er gänzlich die Orientierung verlor. Das ist also das Ende, dachte er in panischer Verzweiflung. Nicht jetzt schon. Aber nicht ein einziger Muskel ließ sich bewegen. Er trieb dahin, hilflos und verlassen. Schließlich schlug etwas mit brachialer Gewalt gegen seinen Kopf und beendete alle schmerzlichen Gedanken.
1. Das verlorene Königreich
25. Dezember 2004, Patong, Thailand
Ein eifriger kleiner Kellner führte das Paar an den einzigen noch freien Tisch mit Meerblick und sagte etwas in einem Gemisch aus Englisch und Thailändisch, das sie beide nicht verstanden. Das Paar, das nun Platz nahm, hätte optisch kaum unterschiedlicher sein können. Während er ein breitschultriger Hüne in ausgewaschenem T-Shirt und Jeans war, wirkte die kleine dunkelhaarige Frau in ihrem teuren Kleid grazil und vornehm. Sie setzten sich und blickten beide, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, hinaus auf die bunt erleuchtete Bucht von Patong. Von überall her erklang Musik und das Stimmengewirr der vielen Menschen, die es an diesem heißen Weihnachtsabend auf die Straßen der Stadt gezogen hatte. Das Paar aber schien von der allgemeinen Ausgelassenheit gänzlich unberührt zu sein. Während sie in die ledereingebundene Speisekarte vertieft war, beobachtete er missmutig die vielen Pärchen, die unterhalb des Balkons vorbei schlenderten.
„Kannst Du Dich vielleicht mal schneller entscheiden? Ich habe Hunger“, sagte der Mann mit mürrischer Stimme, ohne seine Frau dabei anzuschauen. Sie schenkte ihm einen langen missbilligenden Blick und widmete sich daraufhin wieder der Karte. Schließlich kam der kleine Kellner zurück und fragte etwas Unverständliches, woraufhin der Mann Hühnchen mit Cashewkernen und ein thailändisches Bier bestellte. Da die Frau ihre Menüwahl noch immer nicht abgeschlossen hatte, begann ihr Mann nervös mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln.
„Ich hätte gerne ein Pat Pak Ruam, aber bitte ohne Pilze, und ein Mineralwasser“, sagte die Frau schließlich in fließendem Englisch, woraufhin der Mann sofort das Trommeln einstellte.
Der Kellner nickte freundlich und verließ den Tisch.
„Warum setzt Du mich denn immer so unter Druck?“
„Du schaust stundenlang in die Karte und bestellst am Ende doch immer das Gleiche“, erwiderte der Mann inzwischen eher belustigt als erbost.
„Na und. Ich bin hier im Urlaub und kann so lange in die Karte schauen, wie es mir gefällt.“ Sie lehnte sich zurück und verschränkte trotzig die Arme. „Im Übrigen verstehe ich nicht, warum Du schon den ganzen Abend so biestig bist.“
„Diese Hitze geht mir auf die Nerven“, antwortete er erneut mürrisch und fuhr sich mit der Hand durch die ungeordneten kurzen Haare.
„Daran hättest Du denken sollen, bevor Du nach Thailand gereist bist.“
Er schaute daraufhin wieder demonstrativ auf die Bucht, ohne etwas zu erwidern. Auf die fröhlichen Menschen in den Straßen und Bars, die lachten und sich ausgelassen unterhielten. Jeder schien sich an diesem Abend seines Lebens zu erfreuen. Er schämt sich zwar dafür, aber ihm waren diese Menschen heute Abend allesamt verhasst. „War trotzdem eine blöde Idee, in die Tropen zu fahren.“
„Was meinst Du?“, hakte sie nach. „In die Tropen zu fahren oder überhaupt gemeinsam zu verreisen?“ Er antwortete nicht auf ihre Frage, denn er wusste um die Konsequenz seiner Antwort. Vor genau dieser Konsequenz hatte Klaas Petersen seit mehreren Monaten eine große Angst. In den letzten zwei Jahren hatte er bereits mehr verloren, als er ertragen konnte. Wenn er jetzt wahrheitsgemäß geantwortet hätte und gesagt hätte, was er wirklich empfand, wäre auch noch das Letzte, was sein Leben noch zusammenhielt, zerstört. Doch Rieke hakte nach.
„Du meinst also, es war keine gute Idee, unserer Ehe mit dieser Reise noch einmal eine Chance zu geben?“
„Das habe ich nicht gesagt“, schob er schnell nach.
Sie blickte ihm tief in die eng zusammenstehenden Augen, als versuchte sie seine wahren Gedanken dahinter zu erkennen. Er aber wendete sich ab.
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