Der Vater schob sie näher zu sich und widmete sich seiner zweiten Portion. „Wo ist eigentlich Margarete?“, erkundigte er sich zwischen zwei Bissen.
„Sie hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen, Sir“, unterrichtete Mary ihn. „Soviel ich weiß schreibt sie einen Brief an Euren Schwager Ronald.“
Jodie spürte wieder den Wunsch in sich, lesen und schreiben zu können. Ob sie die Mutter fragen sollte? Abgesehen von der Bildung würden sie endlich mehr Zeit miteinander verbringen, so wie sie es beim Holzhacken mit dem Vater tat. Irgendwie schien er gelöster und ihr ging es ebenfalls besser. Außerdem schadete es keinem Mädchen, wenn es mehr konnte als von ihm erwartet wurde.
„Was ist mit Euch, Kinder? Mögt Ihr Nachschlag?“ Mary stemmte die Hände in die Hüften. Johns und Jodies Schüssel waren inzwischen leer.
„Für eine zweite Ladung habe ich keine Zeit“, lehnte John ab.
„Wieso? Möchtest du weiter Holz hacken?“ Der Vater lachte verhalten, bevor er sich den Löffel in den Mund schob. Dann schluckte er und ließ den Löffel sinken. „In letzter Zeit habe ich mich ziemlich gehen lassen.“ Mit jedem Wort war der Vater leiser geworden, bevor er den Blick hob und Jodie ansah. Fast so wie früher. Nur mit dem Unterschied, dass Bedauern in seinen braunen Augen lag.
„Hier riecht es nach Schweiß“, meldete sich John zu Wort und vertrieb diesen schönen Moment. „Ob das Jodie ist? Außerdem würde es mich nicht wundern, wenn sie Läuse hätte. Bei dem verfilzten Haar.“
„Wieso bist du so gemein?“, patzte sie ihn an, obwohl sie den Grund für seine Beleidigung ahnte. Es passte ihm vermutlich nicht, dass der Vater bei seiner Aussage nur sie angesehen hatte.
„Wer hart arbeitet, riecht nach Schweiß. Warum du nach Rosenblüten duftest, solltest du umgehend hinterfragen, Junge.“ Der Vater tauchte den Löffel in die Suppe. Sein Goldring am kleinen Finger blitzte auf. „Und Läuse hattest du öfter als deine Geschwister, wenn ich dich daran erinnern darf.“
„Immer hilfst du zu Jodie“, maulte John und sandte ihr einen grimmigen Blick.
„Das stimmt nicht. Ich helfe dem, der ungerecht behandelt wird. Und wiederum muss ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Wie oft habe ich Malcolm und William ausgeschimpft, weil sie sich einen Spaß mit dir erlaubt haben?“
John nahm eine gerade Haltung an. „Die zwei haben alles zurückbekommen“, behauptete er, aber alle am Tisch wussten es besser.
Zwischen den Brüdern war es regelmäßig zu Raufereien gekommen, aus denen John chancenlos hervorging. Andererseits hatten sich auch Malcolm und William nichts geschenkt, weil sich Malcolm oft darüber geärgert hatte, dass William der Größere und Stärkere war. Dann wiederum waren die zwei wie Pech und Schwefel gewesen. John hatte es schwer, seinen Platz unter den Brüdern zu finden. Kein Wunder, dass er sich anderen Dingen zuwandte. Trotzdem hatte Jodie keine Lust, dass er seine schlechte Laune an ihr ausließ.
„Alan.“ Plötzlich stand die Mutter mit aschfahlem Gesicht in der offenen Tür. Auf die übliche Haube hatte sie verzichtet. Strähnen lösten sich aus ihrem hochgesteckten kastanienbraunen Haar. „Könntest du bitte kommen?“
Der Vater legte den Löffel ab und stand auf. „Ist etwas geschehen?“
Statt zu antworten, drehte sie sich um und ging davon. Der Vater eilte ihr nach. John und Jodie sahen sich fragend an.
Mary sandte einen Blick nach oben. „Herr im Himmel, lass diesen Kelch an uns vorübergehen“, sprach sie inbrünstig aus. „Kredenze ihn jedem anderen, nur nicht uns.“
„Was redest du da für dummes Zeug?“, fragte John kopfschüttelnd.
Marys Blick war undefinierbar. „Ich bete immer, wenn ich das Gefühl habe, dass sich über diesem Haus etwas zusammenbraut.“
„Was soll sich denn …“
„Du bist was ?“, wurde John vom Gebrüll des Vaters unterbrochen.
„Jesus Maria“, Mary machte das Kreuzzeichen. „Als hätte ich es geahnt.“
Jodie hielt nichts mehr in ihrem Stuhl. Als sie in die Halle kam, standen sich die Eltern wie Kampfhähne vor der Kellertreppe gegenüber.
„Wie konnte das geschehen?“, brüllte der Vater.
Die Mutter schluchzte auf. „Bitte quäle mich nicht weiter, Alan.“
„Wer hier wohl wen quält“, höhnte er. „Dabei habe ich gedacht, dass wir das Schlimmste hinter uns hätten.“
„Du bist so selbstgerecht!“ Die Mutter schlug sich die Hände vor das Gesicht und weinte hemmungslos.
Jodie lief zu ihr hin, legte einen Arm um ihre Taille und schaute zum Vater hoch. „Bitte, Papa, hört auf zu streiten“, bettelte sie.
„Misch dich gefälligst nicht ein.“ Der Vater fasste nach Jodies Arm. „Mach, dass du in dein Zimmer kommst. Das hier geht nur deine Mutter und mich etwas an!“ Heftig zerrte er sie von der Mutter weg, als Jodie plötzlich stolperte und im nächsten Augenblick polternd über die Kellertreppe hinunterfiel. Unten krachte sie gegen die Tür. Ein greller Schmerz fuhr durch ihre Beine und ihren Rücken.
„Was hast du getan, Vater?“, hörte sie John rufen.
Dann wurde ihr schwarz vor Augen.
Dezember, 1294 - zehn Jahre später
„Verdammt!“ König Edward schlug mit der Faust auf den wuchtigen Schreibtisch. Papierrollen fielen auf den Boden. Das Tintenfass kippte um. Sein Bruder Edmund, der ihm gegenüber saß, sank tiefer in den Sitz. „Verflucht sollst du sein!“, steigerte sich Edward weiter in seinen Jähzorn gegen Frankreich hinein und ahnte gleichzeitig, dass sein Bruder den Ausbruch auf sich selbst münzen würde.
„Es tut mir leid, dass ich dir keine bessere Nachricht überbringen konnte.“ Edmunds mitfühlende Stimme machte ihn noch wütender.
„Ich verabscheue die Franzosen.“ Edwards Stimme überschlug sich fast. „Wie viel Energie habe ich darauf verwendet, Aquitanien und vor allem die Gascogne aus dem Lehnverhältnis zu lösen. Ich könnte unseren Vater erwürgen, wäre er nicht schon längst tot. Wie konnte er die Ländereien dem französischen König überlassen? Ausgerechnet ihm?“ Wieder traf seine Faust den Schreibtisch. „Den monatelangen Aufenthalt in der Gascogne hätte ich mir sparen können!“
„Du sprichst, als wäre alles umsonst gewesen. Vergiss nicht, dass du durch deine Anwesenheit zumindest deine Stellung festigen konntest“, zwitscherte Edmund wie ein besänftigendes Vöglein.
„Hör auf. Wir wissen beide, dass ich wieder ganz am Anfang stehe.“ Edward stöhnte unwillig auf. „Ich wünschte, Eleonore wäre jetzt hier.“ Seine Frau war vor vier Jahren gestorben. Mit ihr eine kluge Beraterin und treue Gefährtin. Ihr Tod hatte ihm zugesetzt, und erst vor einigen Monaten hatte er sich dazu durchgerungen, wieder zu heiraten. Blanche von Frankreich sollte es sein. Nicht nur aufgrund ihrer vielgerühmten Schönheit, auch politisch konnte er bei dieser Verbindung aus dem Vollen schöpfen. Blanches Halbbruder Philipp hatte sich einverstanden erklärt, sich aber zwei Rechte vorbehalten: Die Gascogne sollte vollständig in französische Hände gegeben werden, und ein Waffenstillstand wurde gefordert. Natürlich hatte er dem vorerst zugestimmt, dann war sein Bruder Edmund nach Frankreich gereist, um Blanche zu holen.
„Niemand konnte ahnen“, fuhr Edmund fort, „dass man uns Blanche schmackhaft macht, obwohl sie Rudolf von Böhmen versprochen ist.“ Er verzog das Gesicht, bevor er sich vorsichtig zurücklehnte. Vermutlich die üblichen Rückenschmerzen. Sein zinnoberrotes Überkleid hatte schon bessere Tage gesehen. Schweiß stand auf seiner wächsernen Stirn. Sie hatten nur das gewellte schulterlange Haar gemeinsam, den Vollbart und die dunklen Augen. Ansonsten waren sie grundverschieden wie ihre Beinamen: Edmund wurde seit seiner Beteiligung am Kreuzzug ´Crouchbackˋ genannt, er aufgrund seiner imposanten Körpergröße ´Longshanksˋ. Etwas, worauf Edward stolz war. Im Gegensatz zu seinem linken Oberlid, das nach unten hing und seine Sicht einschränkte.
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