„Lass mich los, Jodie“, lallte er und hielt die Arme etwas vom Körper weg, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Verletzt löste sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück, weil er bedenklich schwankte.
„Was ist mit dir?“
Ihr Vater sank an die Wand. „Was mit mir ist?“, höhnte er und lachte plötzlich unkontrolliert. „Nichts“, meinte er, „was soll schon mit mir sein?“ Er neigte sich etwas zur Seite. Jodie befürchtete, dass er hinfallen würde. Mit beiden Händen fasste sie nach seinem Arm, um ihn notfalls zu halten.
„Du sollst mich loslassen!“, herrschte er sie an und schüttelte sie ab wie ein lästiges Insekt. Jodie stand wie vom Donner gerührt vor ihm. Seine Gestalt verschwamm vor ihren Augen. „Ich schlafe unten“, fügte er ruhiger hinzu und machte kehrt. Sie blickte ihm schluchzend hinterher, als sich plötzlich eine warme Hand auf ihre Schulter legte.
„Geh wieder ins Bett“, hörte sie William sagen. „Und lass Vater seinen Rausch ausschlafen. Morgen ist er wieder ganz der Alte, du wirst sehen.“
In den folgenden Tagen bekam Jodie ihren Vater kaum zu Gesicht, weil die Trinkstube sein zweites Zuhause wurde. Und wenn sie ihm begegnete, war er so sturzbetrunken, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Manchmal wurden sogar Malcolm oder William geholt, um ihn nach Hause zu bringen. Meistens legten sie ihn dann auf die harte Bank in der Stube, die vor dem Fenster stand.
Die Mutter hingegen erholte sich von Tag zu Tag mehr. Zumindest körperlich. Aber dieser Überfall schien auch sie verändert zu haben. Sie, die immer gern gelacht hatte, brachte kaum noch ein Lächeln zustande. Zwar verrichtete sie ihre gewohnten Tätigkeiten, aber jeder Handstrich wirkte kraftlos. So, als würde sie lediglich funktionieren.
Jodie war völlig überfordert und hatte keine Ahnung, wie sie mit der veränderten Situation umgehen sollte. Es lag eine seltsame Spannung in der Luft. Nur ein falscher Laut, und alles würde über ihren Köpfen zusammenstürzen. Und dass der Vater auf einmal so kühl war, machte ihr zusätzlich zu schaffen.
„Komm schon, Lowland. Sei kein Mädchen!“, rief Malcolm zu ihr herüber. Sie saß auf den Stufen der Burg. „Wer schneller oben ist.“
„Es ist der falsche Baum“, wiederholte sie zum dritten Mal und bewunderte ihren Bruder, der behände von einem Ast zum anderen kletterte. Obwohl sie ansonsten jede Wette annahm, die morsche Eiche neben der Familienkapelle war ihr nicht ganz geheuer.
„Angsthase“, zog Malcolm sie auf und verschwand in den dichten Zweigen. „Du hast keine Ahnung, was du versäumst.“
„Ich kann es mir lebhaft vorstellen“, rief sie abwesend und blickte zum Dorf hinunter. Die Burg ihrer Eltern befand sich auf einer kleinen Anhöhe. Der Old Patrick plätscherte daran vorbei, hohe kahle Bäume umsäumten das Grundstück, zu dem auch einige Ländereien in der Umgebung gehörten. Das Dorf lag am Fuße des Hügels. Oft beobachtete sie die Menschen, wie sie im Herbst durch erdige Straßen eilten oder sich am Brunnen trafen. Im Winter emsige Schritte im Schnee hinterließen und im Frühjahr ihre Gesichter lachend der Sonne zuwandten. Der Sommer schien alle endgültig aus dem Haus zu treiben. Besonders in den Vormittagsstunden wirkte das Dorf häufig wie ein Ameisenhaufen. Oft spielten ihre Brüder und sie mit den Kindern bis die Sonne unterging. Beim Gedanken daran musste sie lächeln.
„Sieh an, dir scheinen zur Abwechslung angenehme Gedanken durch den Kopf zu gehen.“ William schlenderte auf sie zu. Mit einem geschulterten Leinenbeutel, den er knapp vor Jodies Füßen auf den Boden hievte. Vermutlich war er wieder im Stall gewesen, wie so oft in letzter Zeit. Oder in der Familienkapelle, die sich gleich daneben befand. „Sieht schwerer aus als er ist“, meinte er grinsend.
„Hast du Malcolm eingepackt, um ihn beim Markt zu verkaufen?“
William lachte schallend und auch Jodie musste lachen. Es tat so gut, obwohl sie sich auf Malcolms Kosten amüsierten. Aber da der älteste Bruder selbst gerne austeilte, würde er es verschmerzen können.
„Dein Witz wird mir fehlen, Jodie.“
Ihr Lachen endete und sie blickte in Williams ernstes Gesicht. „Du willst fort?“ Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.
William blickte an ihr vorbei. „Aye. Ich muss raus hier.“
Es war, als würde eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen greifen. „Das geht nicht“, entfuhr es Jodie und sie erhob sich langsam. „Du kannst mich nicht alleinlassen, William. Was soll ich ohne dich tun?“
„Malcolm und John sind auch noch da.“
„Aber sie sind nicht du“, flüsterte sie.
Nun schaute er ihr in die Augen. „Ich komme bald zurück, versprochen. Aber ich brauche etwas Abstand.“ Ehe sie sich’s versah, nahm er ihre Hände. „Warte bitte bis ich fort bin, bevor du unseren Eltern Bescheid sagst.“
„Du willst dich nicht von ihnen verabschieden?“
„Nein.“ Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Vater würde es in seinem derzeitigen Zustand ohnehin kaum mitbekommen, und Mutter, na ja, du kennst ihre Überredungskunst.“
„Was ist mit deiner Ausbildung?“
„Von Anfang an hat sie mir keine Freude bereitet. Aus mir wird nie ein Geistlicher werden, Jodie.“, bekannte William mit gesenktem Kopf. „Das ist mir in den letzten Tagen klargeworden. Denn wenn es einen Gott geben würde, hätte er niemals zugelassen, dass … ach, das ist jetzt auch egal.“
„Nein, das ist es nicht“, brach es aus Jodie heraus. „Obwohl Mutter behauptet, dass wir glimpflich davongekommen sind, ist sie ein völlig anderer Mensch geworden. Mit Vater ist dasselbe geschehen und bei dir ist es nicht anders. Doch niemand spricht mit mir darüber oder beantwortet meine Fragen. Auch du weißt mehr als du zugibst“, unterstellte sie ihm. „Was ist wirklich geschehen, William?“
„Glaub mir, manchmal ist es besser, einiges nicht zu wissen. Ich wäre gern an deiner Stelle, Lowland.“ Nie würde sie Williams Blick vergessen, der voller Schmerz war, aber auch voller Hass. „Ich bin der Falsche für dieses Gespräch.“ William küsste sie ins Haar, dann nahm er den Beutel und ging mit ausladenden Schritten Richtung Wald - als könnte er es nicht erwarten, endlich fort zu sein. Am liebsten wäre sie ihm hinterhergelaufen.
In den darauffolgenden Nächten weinte sich Jodie oft in den Schlaf, weil sie William so vermisste. Weil die Mutter weiterhin jeder Frage auswich. Aber am schlimmsten war es, dass der Vater - dessen Besuche in der Trinkstube von heute auf morgen aufgehört hatten - sie wie eine Aussätzige behandelte, wenn sie sich wie früher an ihn schmiegen wollte.
„Hier, damit du nicht so alleine bist.“ Malcolm war unbemerkt in die Kapelle hereingekommen und hielt Jodie eine Holzfigur unter die Nase. Verwundert schaute sie darauf, erhob sich und machte das Kreuzzeichen. „Sie heißt Molly. Ich habe sie selbst geschnitzt.“ Malcolm lächelte stolz und schien neben John der einzige zu sein, der nach wie vor der Alte geblieben war.
„Danke.“ Jodie nahm die Holzfigur und betrachtete sie. Ihr Bruder hatte ihr sogar ein lachendes Gesicht gemalt. „Molly sieht lustig aus“, bemerkte sie und erwiderte Malcolms Lächeln, obwohl ihr Herz von einer seltsamen Wehmut erfüllt war.
„Das wird schon wieder, Jodie.“
„So ähnlich hat William geklungen, bevor er fortgegangen ist.“ Prüfend schaute sie ihm ins Gesicht.
„Mach dir keine Sorgen, Jodie. Ich werde immer bei dir bleiben.“ Unbeholfen klopfte er ihr auf die Schulter, bevor er sie wieder alleine ließ. Fest drückte sie Molly an sich, kniete sich erneut vor die Heilige Madonna nieder und weinte still vor sich hin.
Die Wochen vergingen. Bald färbten sich die Blätter auf den Bäumen. Nebel zog über die Wiesen und Felder. Manchmal regnete es tagelang, begleitet von böigem Wind. An einem dieser tristen Tage hatte Malcolm das Elternhaus verlassen.
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