John war es, der Jodie darüber informierte und bekam unschuldigerweise ihren ganzen Zorn zu spüren. Sie schrie ihn sogar an und schleuderte Molly von sich. Wie hatte Malcolm das tun können? Obwohl er das Gegenteil versprochen hatte? Sogar in einer Kapelle? War ihm denn gar nichts heilig? Nie zuvor hatte sich Jodie verlassener gefühlt. Wen hatte sie jetzt noch? Keinem schien sie wichtig genug, und alle waren mit sich selbst beschäftigt. Gingen ihre eigenen Wege, so wie William und Malcolm.
Beim Abendessen schaute sie ständig auf die leeren Stühle, während ihr Vater und John darüber diskutierten, wohin Malcolm gegangen sein könnte. Die Mutter saß schweigend daneben und stocherte in ihrem Getreidebrei herum. Erst als sich der Vater enttäuscht über Williams abgebrochene Ausbildung äußerte, schien Leben in sie zu kommen.
„Die beiden sind alt genug, um selbst über ihre Zukunft zu entscheiden“, hielt sie dem Vater entgegen.
„Das mag für Malcolm gelten, aber nicht für William. Immerhin habe ich ein halbes Vermögen für seine Ausbildung ausgegeben.“
„Er hat von klein auf gesagt, dass er eines Tages nur einer Instanz dienen möchte: Seiner Heimat Schottland. William wird unserer Familie auf andere Weise Ehre machen, sei unbesorgt.“
Daraufhin erhob sich der Vater und verließ das Esszimmer. Auch die Mutter zog sich zurück. Jodie und John aßen schweigend zu Ende.
„Mein Ausbruch heute Nachmittag tut mir leid“, entschuldigte sich Jodie.
Johns überraschter Blick streifte sie. „Schon gut, ich bin auch zornig gewesen. Wenigstens von mir hätten sie sich verabschieden können. Aber ich war sowieso immer nur der Kleine.“
„Dann sind wir schon zwei.“
„Stimmt.“ John spielte mit dem Löffel. „Eigentlich bewundere ich die beiden. Nie hätte ich mich das getraut. Doch eines Tages werde ich so mutig sein wie sie. Vor allem wie William.“ Unverhohlene Bewunderung sprach aus seinen Worten. „Bis dahin sollten wir zusammenhalten, Jodie.“ Er wurde verlegen. „Mir ist klar, dass ich es nie mit unseren Brüdern aufnehmen kann, aber ich will mein Bestes versuchen. Wenn du also jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da. Auch wenn ich nur schmale Schultern habe.“
Jodie fasste gerührt nach seiner Hand. „Danke.“
Mit etwas mehr Zuversicht ging sie ins Bett. Trotzdem konnte sie nicht einschlafen. Wie einige Male zuvor schlich sie sich mit Molly in der Hand in die Stube. Ihr Vater verbrachte die Nächte nach wie vor auf der Bank. Leise setzte sie sich auf den Stuhl ihm gegenüber und zog sich das Tuch enger um ihre Schultern. Mit ängstlichem Blick auf den Vater. Jeder geringste Laut riss ihn aus dem Schlaf. Das wollte sie vermeiden. Zu kostbar waren diese Momente, in denen sie ihn für sich alleine hatte. Nur für sich. Und auch in dieser Nacht starrte sie auf seine starken Hände und flehte Gott an, ihr zu helfen. Denn nach nichts sehnte sie sich mehr, als dass ihr der Vater wieder über den Kopf streichen würde, so wie früher.
Er rührte sich. Jodie hielt den Atem an, als er die Augen aufschlug.
„Jodie“, raunte er verschlafen. Wie sanft seine Stimme klang. Auch sein Blick war liebevoll. „Habe ich dir nicht gesagt, dass ich es nicht mag, wenn du mich im Schlaf beobachtest?“ Als kämen mit dem Wachwerden unliebsame Erinnerungen zurück, runzelte er die Stirn.
„Entschuldige, Vater.“ Sie senkte den Kopf und schaute auf ihre Hände im Schoss, die Molly hielten. „Ich konnte nicht schlafen.“
„Weshalb du mich wecken musstest?“
Jodie wischte sich grob mit Tuch über die Augen, hob den Blick und flüsterte: „Ich war ganz leise, Papa.“
„Geh ins Bett“, forderte er und fuhr sich durch das zerzauste Haar. Sie starrte auf seine Hände und schluckte hart. Auf einmal öffnete sich die Tür. John kam verschlafen herein. Mit nassen Beinlingen. Fast jede Nacht nässte er ins Bett.
„Wieder einmal in die Hosen gemacht?“, fragte der Vater seufzend und erhob sich. „Na komm, lass uns Mutter Bescheid sagen.“ John schaute zu ihm auf, wie Jodie es tat.
„Ich könnte John helfen“, bot sie an. „Mutter schläft bestimmt schon.“
Der Blick ihres Vaters war nicht zu deuten. „Ach Jodie“, murmelte er und hob seine Hand, als ob er ihr über den Kopf streichen wollte. Doch bevor es dazu kam, verließ er mit John den Raum.
Es war Ende Oktober. Jodie schichtete hinter der Burg das Holz in der Remise auf. Trotz der Anstrengung waren ihre Finger klamm. Immer wieder pustete sie in ihre Hände, aber das half nicht viel. In den letzten Tagen hatte es unaufhörlich geschneit. Mit dem viel zu frühen Wintereinbruch war auch klirrende Kälte gekommen.
„Meine Güte, John“, schallte die Stimme des Vaters zu ihr. „Du sollst das Holz spalten und nicht streicheln. Weiß der Himmel, ob aus dir jemals ein richtiger Mann wird. Da hackt ja Jodie besser Holz als du.“
Sein Lob ging ihr runter wie Öl, weil sich an der Kluft zu ihrem Vater trotz der vielen Wochen nichts geändert hatte. Aber seit jenem Abend war sie nie wieder zu ihm in die Stube gegangen.
„Nein, so wird das nichts. Du darfst die Axt nicht wie einen Kamm halten, Junge.“ Vor kurzem hatte John seine Eitelkeit entdeckt und machte vor allem um seine Frisur viel Aufhebens. Sie kannte niemanden, bei dem sie so perfekt saß. „Jodie, komm her“, rief der Vater.
Sie ließ das Scheit fallen und eilte zu ihm. Als er ihr die Axt reichte, kam Stolz in ihr hoch. Obwohl es ihr an Ausdauer und Kraft fehlte, im Zielen war sie unschlagbar. Jodie hob die Axt in die Höhe, ließ sie nach unten sausen und spaltete das Scheit mit einem Schlag.
Der Vater nahm die zwei Hälften und warf sie auf den bereits ansehnlichen Haufen. „Siehst du, John, genauso macht man das.“
Jodie lächelte ihren Vater an, aber seine Miene blieb starr. Doch als er ihr die Axt aus der Hand nahm, legte er seine Hand kurz auf ihre Schulter.
„Kein Wunder, dass Jodie zuschlägt wie ein Mann“, meldete sich John zu Wort und schniefte. Seit Tagen kämpfte er mit einem hartnäckigen Schnupfen. „Sie durfte dir ja ständig helfen.“
„Eifersüchtig?“, belustigte sich der Vater.
John machte ein Gesicht, als hätte er sich in die Zunge gebissen. „Ich bin doch keine Frau.“
„Dein Wort in Gottes Ohr.“ Jetzt lächelte der Vater, und Jodie fühlte die Kälte nicht mehr. Zuversicht erfüllte sie, dass Malcolm recht gehabt haben könnte. Vielleicht würde tatsächlich alles gut werden.
„Du lernst es sicher noch“, sprach sie John Mut zu. „Ich konnte es auch nicht von einem Tag auf den anderen.“
„Siehst du“, wandte sich John an den Vater. „Kein Meister fällt vom Himmel.“
„Schon gut, Sohn.“ Er tätschelte Johns Wange. „Wie weit bist du eigentlich in der Remise, Jodie?“ Der Vater rieb seine Hände aneinander.
„Fast fertig.“
„Dann lass es gut sein für heute. Den Rest können wir morgen erledigen. Es wird Zeit, dass wir etwas zwischen die Zähne bekommen.“
Einträchtig wateten sie durch den Schnee und saßen kurz darauf am Küchentisch. Zu Mittag aßen sie manchmal hier. Vor allem im Winter, weil kein Raum so warm war wie die Küche. Mary goss Suppe in die Schüsseln und stellte eine nach der anderen vor sie hin. Fast gleichzeitig griffen sie zu ihren Löffeln und begannen zu essen. Dabei schielte Jodie immer wieder zu ihrem Vater. Manchmal fing sie seinen nachdenklichen Blick auf, doch er senkte ihn sofort.
„Falls noch jemand Hunger hat, es ist genügend da.“ Mary schaute wohlwollend von einem zum anderen.
„Ich könnte einen weiteren Happen vertragen.“ Der Vater deutete auf die fast leere Schüssel. „Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen, Mary.“
Die Köchin grinste. Kurz danach stellte sie die aufgefüllte Schüssel auf den Tisch.
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