Oh ja, er wollte kämpfen. Aber für seine Heimat. Für Wexmells Heimat. Für die Heimat seiner Freunde. Für Heimatland und Volk. Sein Volk. Die Luzianer, von denen nicht mehr viele übrig waren.
Desiderius saß auf seinem Stuhl an der langen Tafel seines Hauses. Melecay und einige seiner engsten Vertrauten, darunter sein Bruder Melvin, saßen ihm gegenüber. Die Feier war ausgelassen, je später es wurde, je größer wurde der Schaden, den die Carapuhrianer im Inneren des bescheidenen Anwesens anrichteten. Satt hingen sie in ihren Stühlen oder lehnte auf dem Tisch, der Dank des Großkönigs großzügig mit Speis und Trank eingedeckt war. Das Innere des Raumes schien zu klein für die Anwesenden, es war kaum möglich, aufzustehen und sich einen Weg zur Tür zu bahnen, um den zuvor getrunkenen Wein gelegentlich wieder loszuwerden.
Es war dennoch gemütlicher als in einer Herberge oder dem vom Drachengestank verpesteten Speisesaal der königlichen Burg. Welch Glück für sie alle, dass das Lager des Aufstandes weit von Melecays Sitz entfernt gelegen war, sonst hätten sie ihr Essen mit den Drachen des Königs teilen müssen. Es hieß mittlerweile, Großkönig Melecay liebte seine Drachen mehr als er seine eigene Männlichkeit liebte. Desiderius – der an einem Stück spitzen Holz nagte, das er benutzt hatte, um die Fleischreste aus den Zähnen zu entfernen – grinste in sich hinein, da er wusste, dass diese Behauptung unmöglich der Wahrheit entsprechen konnte. Er kannte den Großkönig bereits so gut, dass er mit Gewissheit sagen konnte, dass Melecay lieber seine Drachen als sein Gemächt geopfert hätte.
Während der Großkönig – den Titel hatte er sich natürlich großkotzig selbst verliehen – eine maßlos übertriebene Variante ihres Kampfes am Morgen zum Besten gab, und dabei so viel Wein verschüttete, das ihm Luro, der am Ende der Tafel neben Allahad saß, bösartige Blicke zuwarf, weil er am Morgen wieder mit putzen dran war, beobachtete Desiderius seine Ziehtochter Karrah, die ihm gegenüber neben Melvin saß und die Augen verdrehte.
Die wunderschöne Hexe, deren langes Haar in violett schimmernden Wellen auf ihre zierlichen Schultern fiel, machte nie einen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber Melecay. Umso erstaunlicher war, dass sie nicht wieder zurück nach Nohva kommen würde. Desiderius würde seine Ziehtochter, die er wie sein eigen Fleisch und Blut liebte, nicht mit in die Heimat nehmen können. Denn Karrah hatte sich mit Melvin vermählt und erwartete bereits ein Kind von dem Jungen. Sie würde in Carapuhr bleiben. Egal, wie sehr Desiderius dagegen war.
Traurigkeit überkam ihn, obwohl der Zeitpunkt seiner Abreise noch nicht bestimmt war. Einerseits war er froh, dass er sie nicht in den Krieg mitnehmen musste, andererseits verlor er sein einziges Kind.
Wexmells Arm lag auf Desiderius‘ Stuhllehne. Der Kronprinz Nohvas lehnte sich zu Desiderius, als habe er dessen Gedanken erraten, und schmiegte sich an dessen Seite.
»Die Hauptsache ist doch, dass sie glücklich ist«, flüsterte Wexmell.
Desiderius brummte, es klang fast nach einer Zustimmung. Jedoch hatte er Melvin von dem Moment an gehasst, als er erfahren hatte, dass er bei Karrah lag. Zum Glück für Melecays Bruder, dessen verbrannte Seite seines Gesichts zu Desiderius zeigte, während er Melecays Erzählungen lauschte, konnte Wexmell Desiderius davon abhalten, ihm den Kopf abzuschlagen. Desiderius durfte niemals daran denken, was dieser Kerl mit seinem kleinen Mädchen machte, wenn sie beieinanderlagen, sonst würde er ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen.
Doch so war das gar nicht. Wenn überhaupt verhielt es sich wohl eher genau anders herum, denn Karrah war älter als Melvin. Genau betrachtet – und wenn man sich daran erinnerte, wonach Hexen strebten – hatte vermutlich Karrah den Jungen verführt, um an das Erbgut seiner Lenden zu gelangen. Sie würde Melvin einen Thronerben schenken, der vielleicht Magie und sogar Drachen beherrschen konnte. Einen Thronerben, der ihr Sohn war und den sie aufgrund dessen beeinflussen konnte.
Doch als Vater sah Desiderius nur einen Mann, der seine Tochter entweihte.
Wexmell lachte dunkel in sich hinein, ein wundervoll kehliger Laut, der tief in Desiderius‘ Inneren vibrierte und sein Herz streichelte. »Du bist so unwiderstehlich, wenn du schmollst.«
Desiderius schielte ihn genervt an, doch davon ließ sich der Prinz nicht beeindrucken. Schmunzelnd beugte er sich vor und stupste Desiderius‘ Wange mit seiner vorwitzig nach oben zeigenden Nasenspitze an, was Desiderius zu einem dämlichen Grinsen veranlasste.
Sie waren schon solange Gefährten, und noch immer so verliebt wie am ersten Tag. Er könnte sich gar nicht vorstellen, auch nur noch einen Tag ohne seinen Prinzen zu leben. Weshalb es für ihn völlig unverständlich war, dass sich viele Männer über lange Beziehungen beschwerten. Wexmells und seine Liebe wurde durch die Jahre ihrer Gemeinschaft nicht geschmälert, sie wuchs mit jedem Tag. Der Gedanke ließ ihn beruhigt lächeln. Was auch immer auf sie zukommen mochte, er wusste, sie würden es durchstehen, solange sie nur zusammen waren. Und nicht einmal die Götter wären fähig, sie zu trennen!
Doch als Desiderius‘ Augen Melecays Gestalt streiften, verdüsterte sich sein Blick.
»Ich werde mit ihm reden, Wex«, beschloss er ernst und sah Wexmell in die Augen. Es lag eine Entschuldigung in seinem Blick, als er fortfuhr: »Wir können nicht noch länger warten.«
In Wexmells Augen trat tiefes Bedauern, doch er nickte zustimmend. »Ich weiß. Dein Heimweh zerfrisst dich. Auch wenn ich wünschte, wir könnten für hierbleiben und in Frieden leben, wir müssen zurück, bevor ich dich verliere.«
»Du weißt, das ist absurd.« Desiderius drehte sich zu Wexmell um und umfasste dessen sanfte Gesichtszüge mit beiden Händen, sein Griff war zärtlich, ebenso seine Daumen, die über die hohen Wangenknochen strichen. »Du bist alles, was ich brauche. Und wenn du nicht wärst, hätte ich keine Ziele.« Schließlich wollte er auch für Wexmell zurück.
Wexmell lächelte traurig. »Versprich mir nur eines, wenn es losgeht.«
»Alles!«
Wexmell sah für einen Augenblick zu Boden, ehe seine eisblauen Augen wieder Desiderius fixierten. »Sollten wir wiedererwarten Erfolg haben, dann verlass mich nicht, egal, was passiert.«
Desiderius musste über ihn schmunzeln. »Wex … nach mehr als zwanzig Jahren könnte ich doch gar nicht mehr ohne dich leben. Wie kommst du nur darauf?«
»Du hast immer durchblicken lassen, dass du dir zu stolz bist, um der Geliebte des Königs zu sein.«
Desiderius zuckte mit seinen massigen Schultern. »Stolz ist etwas, das man im Laufe der Zeit verlieren kann.«
Wexmell lachte ob des Scherzes auf.
»Lass uns nicht darüber sprechen, was passiert, sollten wir Erfolg haben, Wex«, sagte Desiderius ernst, »lass uns darüber sprechen, wie wir Erfolg haben können. Immerhin haben wir eine Pflicht gegenüber jenen, die unsere Hilfe brauchen. Das liegt doch nur in deinem Interesse, oder etwa nicht?«
Wexmell runzelte traurig die Stirn. »Ja. Aber nach all der Zeit hier, da frage ich mich allmählich, warum es ausgerechnet unsere Pflicht ist.«
Desiderius ließ die Hände fallen und nahm dafür Wexmells Finger in seine. »Keine Ahnung. Zufall?«
Wexmell machte diese Antwort nicht glücklich.
»Es ist doch so«, erklärte Desiderius, »irgendjemand muss versuchen, etwas zu verändern. Wenn wir alle nur an uns denken und nichts unternehmen, egal was, dann wird die Welt sich nie verbessern. Ich für meinen Teil möchte meine Heimat und mein Volk in Freiheit sehen. Und dafür möchte ich kämpfen. Es ist das, wofür ich lebe. Ob andere meine Beweggründe gut finden oder nicht ist mir gleich. Denn ich könnte nicht mit mir leben, wenn ich einfach gar nichts tue, nur weil wir hier einen Platz zum Leben und Lieben gefunden haben. Ich möchte, dass auch Nohva diese Freiheit schmeckt.«
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