1 ...8 9 10 12 13 14 ...43 Denn er hatte einst Cohens Großvater ermordet.
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Es war grauenhaft, ihnen beim Sterben zuzusehen. Und doch war es fast unmöglich, den Blick abzuwenden.
»Was wetten wir, dass der linke Bettler zuerst verreckt?«
Eagle wandte schockiert den Kopf und starrte den Vergessenen an.
Sein Freund war zu ihm an die Gitterstäbe gekrochen und setzte sich nun dicht neben Eagle. Sein Körper war warm, wärmer als Eagles, der in diesem feuchten Keller fast umkam vor Kälte.
»Was ist?« Der Vergessene hob mit kühlem Blick seine dunklen Augenbrauen. »Ach komm, wie sollen wir uns sonst die Zeit hier vertreiben?«
»Ich wette nicht auf so etwas!«, protestierte Eagle leise.
Er wandte den Blick wieder auf die beiden Bettler, die am anderen Ende der Zelle nebeneinandersaßen und bei jedem verstreichenden Augenblick blasser wurden. Beide hatten die Augen geschlossen, ihre langen, grauen Zotteln umrandeten ihre eingefallenen ruhenden Gesichter. Sie wirkten jünger als ihr ergrautes Haar glauben ließ, vermutlich hatte das harte Leben auf der Straße ihnen die Farbe aus dem Haar gestohlen. Der linke ließ den Kopf seitlich hängen, doch er atmete ruhig und warmer Sabber floss aus seinem Mundwinkel, der andere, der rechte Mann, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und atmete stockend, er zuckte gelegentlich und wimmerte leise.
Eagle rückte etwas näher an den Vergessenen heran und flüsterte: »Aber, mal angenommen, ich würde auf den rechten setzen – was hättest du denn zu bieten?«
Der Vergessene verzog einen Mundwinkel leicht nach oben, sodass es fast wie ein Schmunzeln wirkte. »Du hast die Wahl zwischen einem verschimmelten Stück Brot und einer toten, halbaufgegessenen Ratte.«
Eagle runzelte die Stirn. »Hast du die Ratte halbaufgegessen?«
»Würde es das besser machen?«
»Vielleicht«, scherzte Eagle. Dann fiel ihm etwas auf und er sah seinen Freund schockiert an. »Hast du etwa Brot vor mir versteckt?«
»Nein, die Ratte hat es reingeschleppt, bevor sie verreckte.«
Eagle wusste sofort: »Vergiftet.«
Der Vergessene nickte zustimmend. »Aber he, wenn dich die Krankheit befällt, kannst du dir damit selbst ein schnelles Ende bereiten.«
Eagle überdachte das und sah wieder hinüber zu den beiden Bettlern. Der Speichel aus dem Mund des linken Mannes färbte sich hellrot. Der Bettler zuckte noch einmal, dann kippte sein Kopf noch etwas weiter vornüber und er hörte zu atmen auf.
»Tja«, seufzte Eagle, »schätze, du kannst deine Ratte und dein vergiftetes Brot behalten.«
»Ich habe gewonnen, du schuldest mir was.«
»Lass mich raten, du willst den letzten Schluck Wasser«, schmunzelte Eagle.
Bei dem Wort »Wasser«, das er unbedachterweise etwas zu sorglos ausgesprochen hatte, fuhr der Kopf eines Mitgefangenem zu ihm herum. Die Gier in den Augen des Mannes schlug Eagle unverwandt entgegen.
Er versuchte, es zu ignorieren.
Sie hatten vor einigen Tagen Brot und Wasser gereicht bekommen, doch das neigte sich nun auch wieder dem Ende zu.
»Kein Wasser. Ich will, dass du mich befreist.«
Eagle sah dem Vergessenen in die Augen. Die grüne Farbe darin schien in dem dunklen Zellenraum geradezu zu leuchten. Es war faszinierend. Oft sah Eagle ihn an und dachte nur, dass in seinem Freund ein seltsames Feuer loderte, das ihn am Leben erhielt. Fast so, als habe er noch etwas zu erledigen und durfte noch nicht sterben. Doch keiner von ihnen beiden wusste, was ihn am Leben hielt.
Der Vergessene lachte scherzhaft auf und zeigte mit einem drohenden Finger auf Eagles Nasenspitze. »Vor Wettschulden kann man sich nicht drücken, denk dran.«
Eagle umschlang seine angezogenen Knie mit den von Folter gezeichneten Armen und wandte den Blick von seinem Freund ab.
Was als Scherz begann, endete in düsteren Gedanken. »Ich wünschte, ich könnte uns befreien.«
Die schwere Hand des Vergessenen landete in Eagles Nacken, doch das spürte Eagle wegen seiner seltenen Krankheit kaum. Die Schuppen auf seinem Rücken – grün und matt, ähnlich wie bei einer Wüstenechse – verhinderten, dass er die Wärme des anderen Mannes spüren konnte.
Der Vergessene, der die Schuppen auf Eagles Rücken bereits kannte und sich nicht dadurch gestört fühlte, strich darüber und beruhigte Eagle: »Es war nur ein alberner Scherz, Eagle.«
»Ich weiß«, seufzte Eagle und holte tief Luft. »Ich wünschte nur, ich könnte irgendetwas für dich tun – oder für mich.«
»Weißt du …«, begann der Vergessene voller Bedauern, » … ich weiß nicht, ob ich Angst davor habe, hingerichtet zu werden, ich wüsste vorher einfach nur gern, wer ich eigentlich bin – und ob ich es verdiene.«
Eagle schüttelte den Kopf und drehte seinem Freund wieder das Gesicht zu. Es war pure Folter durch Gitterstäbe von dem einzigen Mann getrennt zu sein, der Eagle davon abhielt, hier drinnen den Verstand zu verlieren. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen ehrlichen Grund gibt, dich zum Tode zu verurteilen.«
Einmal hatte Eagle danach gefragt, welche Fragen die Folterer dem Vergessenen stellten. Und sein Freund hatte ihm erklärt, dass sie ihn fragten, ob er noch Verbündete hatte und wo sich diese befanden. Aber das wusste der Vergessene natürlich nicht, und die Fragen ließen kaum darauf schließen, wer er war.
Der Vergessene lächelte traurig. »Woher willst du das wissen? Vielleicht bin ich ja ein Mörder.«
Eagle legte den Kopf schief. »Du? Wohl kaum. Du erschlägst nicht einmal die Ratten.«
»Womit denn auch?«
»Ich mach das mit der bloßen Faust, wenn sie mich angreifen.«
»Du bist ja auch widerlich«, konterte der Vergessene, »und mich hat noch keine Ratte angegriffen.«
»Sie mögen dich, weil du dein Brot mit ihnen teilst.«
Der Vergessene senkte den Blick. »Na ja, abgesehen von dir sind sie meine einzigen Freunde hier drinnen.«
Das stimmte Eagle noch trauriger. Er schloss die Augen und lehnte die Stirn an die Gitterstäbe.
Er hörte, wie der Vergessene leise durchatmete und es ihm dann gleichtat, sodass es wirkte, als legten sie die Köpfe aneinander.
Sie schwiegen eine Weile und Eagle wurde dabei müde. Selten fand er Schlaf, obwohl er in dieser Zelle nichts anderes zu tun hatte. Aber sein Verstand war zu aufgewühlt, als das er zur Ruhe kommen könnte. Nur in der unmittelbaren Nähe seines Freundes fühlte er sich manchmal sicher genug, um kurz einzudösen. Aber auch nicht für lange.
In Erinnerung daran, wie nah sie sich mittlerweile standen – und das nur durch die Strapazen der Gefangenschaft – flüsterte Eagle in ihr Schweigen hinein: »Ich habe keinen Vater, habe ich dir das erzählt?«
»Nur eine Mutter, die dich nicht die Welt sehen ließ«, erinnerte sich der Vergessene. »Ja, ich weiß.«
Eagle hielt die Augen geschlossen, als er zugab: »Seit ich denken kann, wollte ich mich auf die Suche nach ihm begeben, aber Mutter hat mir nie etwas über ihn erzählt.«
»Du weißt wenigstens, dass du eine Mutter hast.«
Eagle bemerkte, welch grauenhaften Fehler er gemacht hatte.
Da begann Eagle doch tatsächlich, sich darüber zu beklagen, dass er keinen Vater hatte – er war damit gewiss kein Einzelfall –, während der Vergessene nicht einmal wusste, welchen Namen er trug.
Doch sein Freund schien nicht wütend, nur traurig.
»Das ist das Schlimmste daran, weißt du?«, hauchte der Vergessene, sein Blick richtete sich auf das Gitter in der Fensteröffnung, Abendluft und das Licht des Sonnenuntergangs drang durch die Stäbe in die Zellen. »Nicht zu wissen, wie man heißt, ist eine Sache, aber sich zu fragen, ob da draußen jemand nach dir sucht, macht es noch mal schlimmer.«
Eagle wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er schlang die Arme noch enger um sich, und erinnerte sich an seine liebevolle Mutter, die immer versucht hatte, ihn zu behüten. Sie war sicher krank vor Sorge um ihn – und diesmal sogar mit recht.
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