Freilich hatte auch Markus seine Frauen in der parallelen Welt gehabt und es fühlte sich alles beinahe echt an, die Liebe, das Zusammensein, sie war gut gemacht, diese Welt, nur das Wissen, das nichts echt und vor allem nicht veränderlich, nichts beeinflussbar war, dieses Wissen kam des öfteren dazwischen.
Es heißt: Die Zeit heilt alle Wunden. Doch ist es nicht auch die Zeit, die kleinere Wunden erst zu öffnen vermag? Kann eine Beziehung für eine Ewigkeit, nicht die Ewigkeit, die man sich früher noch in der Kirche geschworen hatte, denn da war sie ja noch endlich, noch durch den Tod begrenzt, sondern einer Dauer, die noch viel länger war, bestehen? Wie oft hatten Ehe über 25, über 50 Jahre lang oder noch länger gehalten? Nun waren die Menschen gealtert, doch was, wenn die Menschen agil bleiben und nicht ohnehin durch das zunehmende Alter das begehrende Interesse am anderen Geschlecht verlieren? – Schon das wurde immer seltener. Bis jetzt zumindest haben sich die meisten Ehegelübde nicht gehalten, denn schließlich sahen zu viele ein, dass die Ehe für ein endliches, abschätzbares Leben mit einem Alterungsprozess durchaus möglich war, doch nun, mit der gegebenen Zeit bröckeln irgendwann auch sehr feste Beziehungen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, wenige, denn manche bleiben auch in der parallelen Welt stets zusammen und halten sich aneinander. Bei vielen hält es dreißig, sechzig, vielleicht sogar neunzig Jahre, doch schließlich, wenn erst einmal erkannt ist, dass der Tod einen nicht trennen wird und auch keinerlei Altersschwächen einen zwangsläufig zusammenhalten, dann irgendwann trennen sich die meisten doch wieder. Man konnte es bereits im endlichen Leben feststellen: Junge Beziehungen endeten meistens wesentlich früher, nach einigen Jahren schon, während ältere wesentlich länger andauerten. Die Schmerzen einer Trennung blieben noch immer, wie auch die Freude über eine neue Liebe, das blieb dem Menschen erhalten. Manche Menschen blieben schließlich lieber alleine, wenn sie zu viele Trennungen, zu viele neue Liebschaften hinter hatten und kein Ende hin und her durch eine bleibende Partnerschaft absehen konnten, doch war dies auch nur für einige Zeit, denn wenn sie, die Zeit, die Wunden wieder geheilt hatte, war früher oder später doch wieder Zeit für neues. Wie eine Kurven zog sich das alleine sein, kennen lernen, auf dem Höhepunkt, der 1 sein und das anschließende Fallen der Kurve, die schwieriger werdende Beziehung und schließlich wieder die Trennung, der Nullpunkt, das alleine sein - die Länge einer Kurvenperiode war bei jedem abhängig von den Beziehungen unterschiedliche, ansonsten konnte man ein Kurvenschema bei allen Menschen erkennen. Die Dauer zeigte also, dass die Zeit nicht nur Wunden heilt, sondern auch Wunden öffnet.
Es war auch mein Fehler, der ich die individuelle Arbeit im Internet damals in meinem Umfeld gefördert habe, aber mit einem anderen Hintergrund – ich wollte den Menschen, die dem Druck der Karriere, der ewigen Vergleiche nicht mehr stand hielten, einen anderen Weg aufzeigen. Was ich mich jetzt, nachdem ich wieder tagelang nur gewandert bin, frage, ist: Wie leben die Menschen miteinander, da sie in keinem Abhängigkeitsverhältnis mehr zueinander stehen? Die Frage ist natürlich nicht neu, doch hier, wo die Menschen nicht mehr auf sich angewiesen sind, keine Lebensmittel benötigen, unabhängig von einer Unterkunft sind und kein Lebensende in näherer Zeit, sondern ganz im Gegenteil, ein unbestimmt langes Leben erwarten, wird die Frage nach dem sozialen Miteinander noch viel aufdringlicher.
Ich selbst war vielleicht schon immer mehr der Alleingänger, klar, mal mit einer Lebensgefährtin, mal ohne, doch hatte ich selten einen festen Freundeskreis, bei dem ich jeden Tag zu finden war. Natürlich war mir meine Familie wichtig, doch sind meine Eltern schon eine ganze Weile verstorben und zu meiner einzigen Schwester, die zehn Jahre älter ist, habe ich kaum einen Bezug. Vielleicht mag es traurig klingen, aber es fühlt sich okay an, denn das ist meine Wahl: Wenn ich so unterwegs bin, dann ist mein Hund mir doch mein liebster und einziger Gefährte. Das einzig wirklich traurige daran ist wohl, dass der Hund nur in der parallelen Welt existiert, genau genommen ein nur ein Zahlenkonstrukt eines Programmierers ist – doch nun, wo wir alle uns die meiste Zeit dort aufhalten, ist mehr der Gedanke daran als die Tatsache das finstere.
Doch kommen wir einmal von mir weg, denn ich weiß nicht, ob ich ein passendes Beispiel bin. Am wichtigsten ist das Verständnis für die zeitlichen Geschehnisse, um sich, wie schon Franz Kafka sagte, kein Bild von den Menschen zu machen. Wenn wir an ganz alte Zeiten denken, Jahrhunderte wie im Mittelalter, als die Familien in engsten Räumen lebten und sich das Essen teilen mussten, so waren die Voraussetzungen, die das Leben bot, schlicht so schwierig, dass den Menschen nichts anderes übrig blieb, als mit der Familie ums Überleben zu kämpfen. Vergleicht man diese sozialen Zustände mit denen des 20 oder besser noch des 21 Jahrhunderts, so erkennt man hier die größten Unterschiede: Der Individualismus ist für viele Menschen zum Dogma geworden – nicht, weil sie alle gefühlskalt und asozial wären, sondern weil andere Bedingungen und Voraussetzungen herrschten: Die Kinder wurden in Kindergärten und Schulen zum Gehorsam und zum Eifer nach guten Noten, wobei sie immer die der anderen Schüler im Auge hatten und besser sein sollten, erzogen – sie lernten also, dass Anerkennung auf Leistungen beruht – dabei spielte es keine Rolle, ob diese Leistungen ihnen Spaß machten oder nicht – jedes Kind sucht Anerkennung. Schließlich ging es weiter mit der Arbeit, der Karriere, die für gesellschaftliche Anerkennung sorgte – das System also konnte und sollte, wie wir noch feststellen werden, dazu führen, dass keine Zeit mehr für soziale Bindungen blieb. Nach der Schule zogen die Jugendlichen aus, immer dem Köder einer anerkannten Stellung hinterher: Es sieht von außen doch paradox aus: Die Menschen vereinsamen durch die Arbeit, die zu gesellschaftlicher Akzeptanz führen soll.
Diese Menschen, die so gelebt, so gelernt haben, diese Menschen leben nun auch hier – der Zweierbund mit einem Partner oder einer Partnerin ist einer der wenigen, der länger hielt und so sieht man auch im virtuellen hier und jetzt häufiger Paare als komplette Familien, wo nun die Möglichkeiten für ein gemeinsames Leben unter ausgesuchten Menschen offen stehen würden. Viele Menschen sind freundlicher geworden, das ja, nur hat man oft das Gefühl, dass sie noch immer nach der Arbeit streben, ohne ihre Sinnlosigkeit anzuerkennen, und nicht nach sozialer Nähe – ein Relikt dieser Zeit, als Arbeit ein Synonym für Gesellschaftszugehörigkeit war. Was ich also sehe, sind hier und da zusammensitzende Menschen, Freunde, die nicht vergessen haben, dass es Freundschaft gibt, seltener Familien. Oft trifft man Paare, die spazieren gehen und sehr oft sind die Menschen allein, allein in der Masse in der Stadt, im Kino. Arbeit an sich ist ein Begriff, dem mittlerweile zu viel anhaftet. Was ich hier meine sind Tätigkeiten, die einem guten gesellschaftlichen Status entsprechen. Man kann den Menschen, die soziale Bindungen längst schon mit dem Status ersetzt haben, also keinen Vorwurf machen.
Die Entwicklung, die bereits im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung und den einher kommenden Arbeitersiedlungen stark gefördert wurde, war, denke ich von der Perspektive jetzt, kein Zufall – denn so, wie wir jetzt leben, wäre es mit engen Familienbindungen gar nicht möglich. Allein wir sind durch unsere Gedankenübungen gezwungen, viele Tage alleine zu verbringen. Dann folgt die Möglichkeit der Indoktrinierung durch Einspeisung sämtlicher Lehrmaterialien. Das ist zwar kein Zwang, doch erhält man durch das Wissen, das sorgfältig ausgesucht und abgewägt ist, wie früher, im allgemeinen Anerkennung. Ich für meinen Teil sehe das ganze als eine sich zuspitzende Entwicklung und keineswegs als überraschend an. Die Menschen mussten von einander getrennt werden, mussten sich selbst als das Wichtigste erkennen, um bereit zu sein, in dieser Welt zu leben. Die Abhängigkeit untereinander wurde nach und nach gelöst, wie eine Zwiebel, die viele Schichten hat, wurden die sozialen Bindungen nach und nach von einander abgezogen, was für einzelne oft genau so tränenreich, wie das Schälen einer Zwiebel war, doch schließlich sieht ein jeder nur sich selbst, konnte ein jeder oft nur auf sich selbst sehen, denn von allen Seiten her drängte man ihn in ein angepasstes arbeitsames Leben. Ob diese auf sich selbst bezogene Orientierung gut oder schlecht ist, kann ich, der auch nur sich selbst im Mittelpunkt hat wahrscheinlich schlecht bewerten. Letztendlich sind wir nur zu leicht zu durchschauen, wir sind gepellt wie die Zwiebel, unser Inneres liegt offen, die meisten Tränen sind getrocknet, wir tun stark, doch sind verwundbar.
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