Aus kleinen, in die Wand eingelassenen Lautsprechern dringt das weibliche Stöhnen sexueller Begierde. Von geilen Weibern ausgestoßene Satzfragmente bilden darin die Spitzen, die einen wohligen Schauer in der männlichen Zuhörerschaft auslösen. Sie erzeugen den Wind, der das erotische Feuer weiter anfacht.
Ich streiche mir den Staub von der Krawatte und nehme Platz. Mein Blick wandert an den meterhohen Wänden hoch, an den ebenso in Wonne wie in Farben getränkten Gemälden vorbei, und endet am Dachfenster, durch das gleißendes Licht in den Raum fällt, ich muss blinzeln. Architekt und Einrichter haben einen Preis verdient, finde ich. Der Ort ist ebenso einschüchternd wie einlullend, je nach Betrachter. Wenn man sich fallen lässt und entspannt zurücklehnt, gleicht der Aufenthalt einer Meditation.
Ich greife nach dem für mich bereitgestellten Ebookreader an der Flanke meines gepolsterten Sitzes. Der Bildschirm leuchtet auf, und die Auswahl erotischer Literatur umflirrt mein wankendes Gemüt. Ich entscheide mich schließlich für den Roman eines schwedischen Autors, wie es scheint, zumindest lässt sein Name schwedische Herkunft vermuten, ich habe nie von ihm gehört. Jonas Lundgren prangt in fetten Lettern über dem Titel des Romans: Das Geheul der Göre.
Männliche Allmachtsfantasien gewürzt mit einer ordentlichen Prise Frauenverachtung und einem Schuss expliziter Schilderungen, denke ich und beginne zu lesen.
Kapitel 1
Nächtliches Heulen
„Hörst du nicht? Friedrich! Friedel!“
Sie schüttelte ihn, zunächst sanft, dann heftiger.
„Deine Tochter! Sie schreit!“
Er stöhnte. Die Luft, die er ausstieß, stank nach Schlaf und Abenteuer. Beides musste sich nicht ausschließen. Schließlich konnte man im Schlaf die ungehörigsten Sachen erleben. Von denen man bei Tag noch nicht einmal zu träumen wagte.
„Friedrich! Du schläfst doch gar nicht! Du simulierst doch!“
Ich öffnete die Augen. Die zornesrote Fratze meiner Frau befand sich nur wenige Zentimeter über meinem Gesicht, das sich anfühlte, als hätte man es mit Hammer und Meißel bearbeitet und dann in Watte gepackt.
„Deine Tochter! Hörst du nicht?“
Felicitas schrie tatsächlich. Schrie und weinte.
Mit einem Satz war ich aus dem Bett. Für meine Kinder würde ich durch Feuer gehen. Ich fühlte mich gerädert, aber meine Gliedmaßen gehorchten noch. In einer Geschwindigkeit, die Curtis Taylor, dem Weltraumhelden, zur Ehre gereicht hätte, war ich im Zimmer meiner Tochter. Ihr Puppenhaus brachte mich fast zu Fall, als ich dagegen stieß, doch ich konnte mich durch eine höchst geschickte Ausgleichsbewegung auf den Beinen halten (von einem musste Nick seine motorischen Gaben ja haben). Auf den publikumswirksamen Salto verzichtete ich allerdings in Ermangelung jubelnder Anhängerschaft.
Eine Puppe wurde durch den Aufprall in die Tiefe gerissen, landete auf dem Boden, wodurch ein Kontakt ausgelöst wurde. In einer quäkenden Blondinenstimme sagte sie: „Hallo, ich bin Dolly, und ich liebe es zu shoppen! Gehst du mit mir Schuhe kaufen?“
Ich konnte nur hoffen und mein Nötigstes tun, dass aus Felicitas eines Tages alles andere als so ein dummes Luder wurde! Und ich hoffte inständig, dass sie die Puppen irgendwann in der Ecke vermodern ließ! Noch waren sie stets geschminkt und gemäß aktueller Mode frisiert, aber wartet nur, dachte ich, auch ihr werdet älter, werdet grau und alt, faltig und schrumpelig, und dann interessiert sich keiner mehr für euch – weil ihr keine Seele habt!
Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, und dann, Unachtsamkeit und Ungeschick gaben sich die Hand, stolperte ich über Sandy Spacelight, die noch immer am Boden lag, gestraft von der Verachtung meiner Tochter. Nick wäre ihr mit einem Sprung, kombiniert mit einem Dreifach-Salto, ausgewichen. Ich musste mir eingestehen, dass seine akrobatischen Fähigkeiten wohl doch nicht meinen Genen zuzuschreiben waren.
Immerhin gelang es mir, meine Hände in abstützender Weise nach vorne zu bringen, so dass der Sturz gemildert wurde. Auf allen Vieren, wie ein treuer Köter, krabbelte ich ans Bett meiner Tochter und tastete nach ihr. Ich fand sie aber nicht! Das Bett war leer. Düstere Vorahnungen stiegen in mir auf ...
Ich hastete durch die Wohnung, blickte kurz in das Zimmer meiner friedlich schlummernden Söhne, aber ich musste der Stimme folgen, die jammernde und flehentliche Töne an mein Ohr trug ...
Im Wohnzimmer bildeten die Schatten ein friedliches Stillleben, aber ich war ihr ganz nahe, meiner Tochter, die in einem fort nach ihrer Mutter schrie. Und weinte.
Schön, dass die gerufene Mutter den Vater machen lässt, dachte ich bitter. Und nach erfolgter Rettung durch Daddys Hand würde sich meine Tochter schluchzend an Mummys Brust drängen, und meine Frau würde die Ernte kindlicher Dankbarkeit einfahren, während ich im Bewusstsein meiner Mikrobenhaftigkeit ins All hinausblicken und irgendeinem geheimen Schöpfer danken würde: dafür, dass er mir in höchster Gefahr mal wieder seine Unterstützung nicht versagt hatte ...
Meine Augen, die sich immer noch nicht vollends an die Dunkelheit gewöhnt hatten, scannten den Raum ab, und als mir ein Luftzug in die Pyjamahose fuhr, fiel mein Blick auf die geöffnete Tür des Balkons, den ich nun in Angriff nahm. Ich eilte hinaus. Zuerst sah ich nichts Auffälliges, alles in Butter, dachte ich, doch dann stieß meine Tochter nach kurzer Verschnaufpause wieder einen Schrei aus, und dieser kam von unten.
Da hing sie nun also, meine Tochter; mit einer Hand umfasste sie die Balkonbrüstung, und die Dunkelheit unter ihr war neun Stockwerke tief. Alles in Butter, na klar.
Einige Nachbarn hatten bereits die Fenster geöffnet, aber niemand sagte etwas. Sie wunderten sich stumm und genossen das Spektakel, als handelte es sich um eine Szene auf ihrer TV-Wall. Ich wunderte mich nicht, kein bisschen.
In letzter Zeit hatte meine Tochter ein neues Hobby für sich entdeckt (sagte ich bereits, dass sich 7jährige in einem schwierigen Alter befinden?): Sie wandelte im Schlaf. Sie tat dies inzwischen mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit, und natürlich hatten wir deswegen bereits einen Arzt konsultiert. Beruhigende Worte, das ist wohl sein Spezialgebiet, hatte ich gedacht, als wir aus seiner Praxis gekommen waren. Außerdem hatte er uns ein Medikament verschrieben. Als ich den Beipackzettel entfaltete, hatte ich noch keine Ahnung. Als dieser Zettel, der sich als kleines Büchlein getarnt hatte, das sich in jeder Hosentasche verstauen lässt, vollständig entfaltet war, nahm er die gesamte Fläche unseres Wohnzimmers ein. Während die Zusammensetzung des Medikaments in einem übersichtlichen Absatz zusammengefasst war, schien der Absatz mit den Nebenwirkungen in etwa so viele Spalten zu haben wie das Universum Sterne aufweist: Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Übelkeit, Erbrechen, Panikattacken, Schweißausbrüche, Schaumbildung im Mund, Halluzinationen, Doppeltsehen, Erblindung, Durchfall, Bauchschmerzen, Bauchkrämpfe, Nasenbluten, unkontrollierte Zuckungen, Zittern, Mundgeruch, Kälte- und Hitzewallungen, Fieber, Leberfunktionsstörungen, Nierenversagen, Bluthochdruck, Lachanfälle, Verlust der Sprache, Depressionen, Psychosen, Wahnvorstellungen, Alpträume, Paranoia, Hörverlust, Stimmen im Kopf und so weiter und so fort. Am Ende der Liste betrat sogar der Tod die Bühne der eindrucksvollen Aufzählung.
Nein, danke, hatte ich gedacht und das Teufelszeug, das in der Tarnung als Medikament Einzug in unschuldige Haushalte fand, dahin verfrachtet, wo es hingehörte: in den Müllschlucker, der die Pillen geräuschvoll zerkaute.
„Daddy, Hilfe!“
Felicitas umklammerte mit einer Hand die Brüstung des Balkons und blickte aus schreckgeweiteten Augen zu mir auf. Der kalte Weltraum mit seinen zahllosen Sternen und fernen Galaxien bäumte sich über uns. Er scherte sich einen Dreck um die Szene, in der jeden Moment ein kleines Mädchen den Tod finden konnte. In den umliegenden Fenstern bildeten Licht und Bewegung eine Einheit des Staunens. Köpfe wurden in die Nachtluft gehalten, die so dick und schwer war, dass man den Eindruck hatte, es mit einer Wand zu tun zu haben. Keiner sagte etwas, niemand wollte in die Szene eingreifen. Schließlich war der rettende Vater auf der Bildfläche erschienen; an ihm war es, alles zum Guten zu wenden.
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