Dann wurden die Zähne geputzt, wobei nur Ben Hilfestellung benötigte, schließlich musste jeder Zahn getroffen werden, und so zielsicher waren seine Bewegungen noch nicht.
Und schließlich ging es ab ins Bett. Die Jungen hatten ein gemeinsames Zimmer, während Felicitas ein Prinzessinnenreich ihr eigen nennen durfte. Zunächst erhielt Ben seine Gutenachtgeschichte, dann Nick und zu guter Letzt Felicitas. Wenn meine Frau in Form war, kümmerte sie sich um Felicitas, während ich meine kleinen Racker abfertigte. Das war an diesem Abend entschieden nicht der Fall; meine Frau war so sehr außer Form wie ein reaktivierter Flatballspieler, der den Ball nicht kommen sieht.
Das bedeutete für mich eine umso längere und Kräfte raubende Prozedur, aber – ich sagte es bereits – wenn ich mich zwischen der TV-Wall und den Kinder hätte entscheiden müssen, so hätte die TV-Wall das Nachsehen gehabt.
Meine Jungen ließen sich wie üblich abfertigen, ich las ihnen Abenteuergeschichten vor, die ihre Fantasie anregten und ihnen Lust auf Schlaf und wilde Träume machten. Ich wünschte ihnen eine gute Nacht, löschte das Licht und kaum hatte ich zweimal durchgeatmet, befand ich mich bereits im kunterbunten Prinzessinnenreich meiner Tochter.
Gasluftballons schwebten unter der Zimmerdecke, Andenken vergangener Geburtstage, die Schriftzüge trugen wie: Für unser Engelchen, jetzt bist du schon Drei – Du darfst Dreiradfahren! oder: Unserem Mäuschen, zu ihrem Jubeltag!
Felicitas bestand darauf, dass ich die Ballons regelmäßig beim Luftballonhändler um die Ecke mit Gas befüllen ließ, damit sie auch nicht schlappmachten und als kläglicher Rest eines schönen Tages im Staub landeten.
Die Wände waren voll von Bildern des Lieblings aller Mädchen, Sandy Spacelight. Was sie genau darstellte, hatte ich nie verstanden. Sie sah aus wie eine Kreuzung aus einem Kätzchen und einem Äffchen, trug ein Weltraumkostüm und eine rosa Schleife auf dem Astronautenhelm. Auf den Abbildungen kämpfte sie mit seltsamen Weltraumviechern oder lag zwischen Blumen und Bienen und meditierte. Jedes Kind braucht jemanden zum Aufschauen, und Sandy Spacelight war die Heldin eines ganzen Universums von Mädchenseelen.
Felicitas war, wie die meisten Mädchen ihrer Generation, Mitglied im Sandy-Spacelight-Starclub. In meinen Augen war das eine unselige Geldmacherei: Felicitas erhielt eine Monatszeitschrift und gelegentlich eine Einladung zu einem Special Event, und mir gingen jeden Monatsanfang 10 Universaltaler flöten, die „außerordentlich günstige Clubgebühr“. Aber meine Tochter ließ sich die Clubmitgliedschaft nicht ausreden. Ich hatte bereits mehrfach erfolglos den Versuch unternommen. Es kam einem Wunder gleich, dass ich aus diesen Unterredungen unversehrt hervorging. Ich hätte meine Tochter ebenso bitten können, vom Balkon zu springen.
In der Puppenecke lagen und saßen rund zwei Dutzend künstlicher Schönheiten und warteten darauf, dass man ihnen die Nägel lackierte, ihre Frisuren pflegte oder einfach ein paar Worte an sie richtete.
Genauso wartete meine Kleine in ihrem Bett auf ihre Geschichte. In Schönheitsfragen übertraf sie ihre künstlichen Gefährten bei weitem, wenn man mich fragte. Ihr längliches, immer ein wenig zu blasses Gesicht war auf dem besten Weg, eines herzzerreißenden Tages die Konturen und Ebenmäßigkeit eines Modellgesichtes anzunehmen. Die blauen Augen, das blonde Haar, die fein modellierte Nase taten ihr Übriges, um mich jedes Mal dahinschmelzen zu lassen, wenn sie aus diesen übergroßen Augen zu mir aufschaute und darauf wartete, dass ich ihren Wunsch erfüllte. In ihren bizarren Forderungen erinnerte sie mich oft an meine Frau. In allem übrigen kam sie eher nach mir.
„Was lese ich dir denn heute vor?“ fragte ich und wandte mich schon in Richtung des Bücherregals, wo die gesammelten Abenteuer von Sandy Spacelight darauf warteten, in Felicitas’ Kopf einzufahren.
„Nichts!“
„Was soll das heißen: nichts?“
„Nichts heißt nichts!“ gab mir meine Tochter mit der unwiderstehlichen Logik des kleinen Mädchens zu verstehen.
„Na gut, dann decke ich dich richtig zu, streichele dir einmal durch dein Haar, wünsche dir eine gute Nacht und ...“
„Sandy ist blöd!“ rief meine Tochter, und ich fuhr zusammen. Wir können schimpfen, wir können mahnen, aber wenn auf einmal das Objekt unserer Missgunst eigenhändig vom Kind zerschlagen wird, ist es, als nehme man uns die Luft zum Atmen.
„Also, das sind jetzt deine Worte, ich hätte das vielleicht anders ausgedrückt“, sagte ich, als ich die Fassung so einigermaßen wiedererlangt hatte. Mein wandernder Blick blieb an einem Gegenstand hängen, der mir zuvor entgangen war: Es war die Kuscheltier-Version von Sandy Spacelight, und sie war von ihrem angestammten Platz, dem Bett, verbannt worden und lag nun, Gesicht nach unten, auf dem Boden.
„Genau das sind deine Worte“, gab meine Tochter zu bedenken, und ich wunderte mich wieder über ihre Art, die manchmal so schneidend kalt war wie ein Polarwind.
„Ja, ok, vielleicht habe ich das mal so gesagt, aber gemeint habe ich doch eigentlich, dass Sandy, bei aller Liebe, die man für so ein, so ein ... Wesen aufbringen kann und vielleicht auch sollte, dass sie manchmal schon ein bisschen nerven kann, aber nur ein bisschen ...“
„Sie ist so überflüssig wie Krebs im Endstadium!“
„Äh ... was?“
„Hast du gesagt! Zu Mum!“
„Ähm ... ja, manchmal sagt man Sachen, die man erstens nicht so meint und an die man sich zweitens im Nachhinein gar nicht mehr erinnern kann ...“
„Du hattest Recht damit!“
„Was?“
„Sandy ist doch nur eine Erfindung, um uns Mädchen davon abzuhalten, einen wirklich klugen Gedanken zu fassen und hinter die Dinge zu schauen ...“
„Hast du das von Nick? Ich meine, er hat Recht, Feli ...“
„Nein, darauf bin ich ganz alleine gekommen! Und hör auf, mich Feli zu nennen, bin doch kein Püppchen, deren Namen man auf den kleinsten Nenner bringt, nein, ich bin ein Mädchen, und zwar eines mit Herz und Hirn!“
„Feli ...“
„Hast mich Felicitas genannt oder zumindest zugelassen, dass ich so genannt werde und willst jetzt die Unannehmlichkeiten dieses Namens – nämlich seine Vielsilbigkeit – nicht in den Mund nehmen!“
Ich war baff. Ich sagte nichts. Ich benötigte erst einmal ein halbes Leben oder zumindest ein paar Jahre, um wieder zu mir zu kommen. Aber diese Zeit wurde mir nicht gegeben.
„Kannst mir lieber mal von deinem Tag in der Fabrik erzählen, anstatt mir diese süßlichen, einlullenden Kleinmädchengeschichten zu verabreichen! Wie eine Medizin!“
„Feli ...“
„Ich heiße Felicitas. Fe-li-ci-tas! Ist das so schwer zu verstehen?“
„ ... hast du Drogen genommen?“
„Nur weil ich die Wahrheit erkenne, soll ich jetzt Drogen genommen haben? Ha!“
Felicitas verschränkte die Arme über der Brust und wandte sich gegen die Zimmerwand. In dieser Geste hatte sie erschreckende Ähnlichkeit mit meiner Frau. Und ich nahm unwillkürlich die Rolle ein, die ich auch bei meiner Frau spielte, wenn sie an der Zimmerwand plötzlich mehr Gefallen fand als an mir.
„Das meine ich doch gar nicht, ich bitte dich, du verhältst dich nur so ... so anders ...“
„Darum sind wir Menschen. Weil wir uns verändern.“
„Ja. Also gut. Ich erzähle dir von meinem Tag.“
„In der Fabrik!“
„In der Fabrik.“
Felicitas wandte sich wieder mir zu, mit betörendem Augenaufschlag. Verdammt, dachte ich, wer hat ihr eigentlich beigebracht, so zu sein, so durch und durch weiblich, durchtrieben; sind die Gene Schuld, meine Frau, habe ich versagt oder ist am Ende Sandy Spacelight zur Verantwortung zu ziehen?
„Also, ich weiß jetzt gar nicht, wo ich einsteigen soll, es ist auch ziemlich langweilig ...“
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