„Ich habe ganz fest daran geglaubt, dass du kommst“, wisperte er glücklich. „Ich bin extra wach geblieben. Und ich habe auch Milch und Kekse für dich. Die Milch ist aber noch vom Frühstück; abends bekommen wir keine mehr. Hoffentlich ist sie noch gut. Sie stand den ganzen Tag vor dem Fenster, damit sie nicht sauer wird.“ Er kicherte fröhlich. „Aber die Schwester ist ein bisschen sauer geworden als sie gemerkt hat, dass ein Milchkännchen fehlt. Aber morgen bringe ich es ja wieder zurück. Das ist doch nicht schlimm, oder?“
Erwartungsvoll schaute er den Weihnachtsmann an, der sprachlos und mit vor Staunen offenem Mund vor ihm stand.
„Ääh, nein. Ganz bestimmt nicht.“
Mehr brachte er erst einmal nicht heraus.
„Setz dich doch“, sagte Paul und deutete auf einen alten Sessel, der vor dem Fenster stand und ließ sich selbst auf sein Bett plumpsen. Doch sofort stand er wieder auf und eilte zu dem kleinen Fenster.
„Die Milch“, haspelte er aufgeregt und holte ein Blechkännchen vom Fensterbrett. Dann huschte er zum Nachttisch und kramte eilig ein paar in eine Serviette gewickelte Kekse aus der Schublade. Aus einem kleinen Spind holte er eine Tasse und einen Teller, goss die Milch ein und drapierte die Kekse liebevoll auf dem Porzellan.
„Die habe ich leider nicht selber gebacken. Das dürfen wir nicht, sagen die Schwestern. Die halten uns für zu dumm dafür. Dabei habe ich das früher immer selber gemacht. Mit Ulrike, als sie noch ein Kind war. Wir hatten ja nicht so viel Geld, um alles zu kaufen. Außerdem war es so viel schöner. Da haben wir uns schon wochenlang auf Weihnachten freuen können, wenn es im ganzen Haus nach frisch gebackenen Plätzchen und Keksen duftete. Meine Frau hatte es ja nicht so mit dem Backen und als sie gestorben war, da habe ich es gelernt. Und Ulrike hat es dann von mir gelernt. Sie backt die besten Plätzchen auf der ganzen Welt.“
Paul schaute den Weihnachtsmann traurig an.
„Naja, das ist nun leider alles nicht mehr möglich. Weißt du...“
Die Freude verschwand aus seinem Gesicht und damit alles Kindliche, das vorher dort gewesen war. Da saß er nun vor ihm, ein alter Mann in einem alten Schlafanzug. In einem lieblosen Zimmer mit kleinem Fenster, ohne Hoffnung und so voller Traurigkeit, dass dem Weihnachtsmann das Herz weh tat. Der „kleine Paul“, der ihn vorhin so glücklich in sein Zimmer gewunken hatte, er war verschwunden. Und der alte Mann vor ihm erzählte traurig weiter:
„Weißt du, manchmal bin ich wieder wie ein kleines Kind. Dann vergesse ich alles, weiß nicht mehr, wie ich heiße, wo ich wohne, wie ich meine Schuhe zubinden soll. Oder sogar, was Schuhe überhaupt sind. Und dann kann ich nicht alleine sein. Dann muss jemand auf mich aufpassen, sich um mich kümmern. Das hat Ulrike immer getan. Sie ist ein gutes Kind. Aber dann wurde Heinrich arbeitslos und sie musste arbeiten. Er ist auch ein guter Mann, hat sich immer um mich gesorgt. Aber so ganz gesund ist er auch nicht mehr. Das ging einfach nicht, als Ulrike arbeiten gehen musste und den ganzen Tag auf den Beinen war. Heinrich alleine hat es einfach nicht geschafft. Sie wollten beide nicht, dass ich hierher komme. Aber ich habe ja doch gemerkt, dass es so nicht weitergeht...“
Wieder schwieg er und ein paar Tränen kullerten über seine Wangen.
„Besuchen können sie mich auch nicht so oft. Dafür ist es zu weit. Und die Bahnfahrt kostet so viel. Und es ist auch immer so traurig, wenn sie wieder weg müssen. Dann weinen wir alle. Das tut mir am meisten weh. Wenn ich sehe, wie traurig die beiden sind.“
Schweigend sahen sich beide an. Was sollte er da nur tun, fragte sich der Weihnachtsmann. Wie konnte er nur helfen? Und wollten die beiden – Heinrich und Ulrike – wirklich, dass der alte Paul wieder zu ihnen kam? Das war ja das Wichtigste.
„Und da hast du mir geschrieben?“, fragte er Paul.
„Ja. Das war die Idee von Ulrike. Als ich mal wieder nicht so richtig im Kopf war, naja, als ich wieder wie ein Kind war. Das war wohl so vor drei Wochen. Da waren die beiden nämlich zu Besuch. Und da hat sie gesagt: Schreib doch an den Weihnachtsmann. So wie früher, als du noch klein warst. Da hast du auch immer einen Wunschzettel geschrieben, so wie ich selber. Vielleicht kann er ja helfen. Das hat er immer gemacht. Und dann hat sie noch gesagt: Wir schreiben selber auch einen Wunschzettel an ihn. Dann haben wir uns hier an den Tisch gesetzt und geschrieben.“
„Sie hat auch einen Wunschzettel geschrieben?“, fragte der Weihnachtsmann.
„Ja, das hat sie. Ich weiß natürlich nicht, was darin stand. Das muss ja ein Geheimnis bleiben. Aber das weißt du ja am besten.“
„Das sollte ich wohl wissen“, erwiderte der Alte im roten Mantel, während er in seinen großen Taschen kramte. Wo hatte er nur die Liste mit den Wunschzetteln hin gesteckt? Wahrscheinlich wurde er langsam auch ein wenig alt und vergesslich. In der letzten Tasche fand er ihn endlich und fuhr mit dem Finger über die Namen.
„Karl-Heinz, Fritz, Klaus-Dieter, Marina, Nathalie......“, murmelte er leise vor sich hin. „Da! Ulrike.“
Hoffentlich war es die Richtige. Er suchte noch schnell den passenden Brief dazu. Eine säuberliche Handschrift. Schönschrift. Das musste sie sein.
„Lieber Weihnachtsmann“, stand da. „Ich habe dir lange nicht mehr geschrieben. Aber heute muss ich es einfach tun und ich hoffe, dass du meinen Brief auch liest. Früher hast du es immer getan, aber da ich leider so lange nicht mehr an dich gedacht habe, weiß ich nicht, ob du mich nicht vergessen hast. Ich hoffe, dass du auch für uns Erwachsene noch da bist.
Ich habe nur einen Wunsch an dich. Einen ganz großen. Ich möchte meinen Papa Paul wieder haben. Er lebt im Sankt-Vincent-Heim. Wir alle, ich, mein Mann Heinrich und mein Papa sind sehr traurig, dass wir nicht mehr zusammen sind. Mein Papa ist schon 82 Jahre alt und hat Demenz. Manchmal vergisst er alles. Aber das ist nicht so schlimm für uns. Das Getrenntsein ist viel schlimmer. Er wollte uns keinen Kummer machen und deshalb ist er in das Heim gezogen. Weil er Angst hatte, dass uns alles zu viel wird, weil ich arbeiten muss und Heinrich nicht ganz gesund ist.
Aber so ist es viel schlimmer, weil wir alle traurig sind. Wir – Heinrich und ich – würden das schon schaffen. Auch wenn Heinrich keine Arbeit findet. Irgendwie wird es gehen. Ganz bestimmt. Das ist mein einziger Wunsch, dass Papa wieder bei uns ist. Um alles andere kümmern wir uns schon. Versprochen.
Liebe Grüße an das Christkind.
Deine Ulrike
P.S.: Und Grüße auch von Heinrich. Er hat den gleichen Wunsch. Deshalb ist es nur ein Wunschzettel.“
„Paul“, sagte der Weihnachtsmann und schaute den alten Mann an. „Kannst du noch ein bisschen wach bleiben? Ich muss noch ganz schnell etwas erledigen. Aber ich komme wieder. Versprochen.“
Und als der alte Mann ihm vertrauensvoll zunickte, eilte er aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, vorbei an der Pförtnerloge und im Eiltempo zu seinem Schlitten. Es gab viel zu tun. Aber das wäre doch gelacht, wenn er das nicht schaffen würde. Als erstes eine anständige Arbeit für Heinrich. Er hatte da doch noch einige Verbindungen. Das würde klappen. Dann ein schneller Besuch bei den beiden. Darauf freute er sich schon. Dann ein Transportmittel, ein schnelles. Es war Weihnachten, und hier konnte er gleich drei große Wünsche erfüllen. Notfalls würde er halt den Schlitten nehmen. Und dann wieder zu Paul. Zu dem „kleinen Paul“ mit den großen, vertrauensvollen, glücklichen Augen und dem vor Staunen offenen Mund. Darauf freute er sich am allermeisten.
Von Bärbel Kache-Lungwitz
Dieses Jahr hab ich beschlossen,
wird Weihnachten ganz anders sein,
das, was mich schon lang verdrossen,
Читать дальше