Tamara betrachtete versonnen den nüchtern ausgestatteten Raum. Nachdem sie fertig waren, hatte sie das Sektionsbesteck ordentlich gereinigt und wieder an seinem Platz verstaut. Eine Tätigkeit, die sie mochte, bedeutete es doch, dass die Ergebnisse vorlagen, der Täter vielleicht damit auch überführt werden konnte. Doch heute war sich Tamara nicht sicher, was sie da eigentlich gesehen hatte. Freilich war die Todesursache klar und unwiderlegbar. Sie und ihr Kollege waren zu dem gleichen Ergebnis gekommen, welches auch Dr. Gersting in das Protokoll geschrieben hatte, auch wenn Tamara sich an irgendetwas dabei störte. Für ihren Kollegen war der Job damit getan. Er wollte gehen, denn er musste noch etwas erledigen. Deshalb unterzeichnete er nur rasch die Sektionsprotokolle, schob schnell noch eine der drei Leichen wieder in die Kühlkammer und verschwand mit einem kurzen Gruß. Den Rest überließ er ihr. Tamara blieb allein zurück, mit zwei weiteren Obduzierten und dem Aufräumen. Tamara war nicht böse deswegen, im Gegenteil, es war ihr sogar ganz recht, denn sie wollte sich die Gewebeproben noch einmal genauer anschauen, ohne dass ihr dabei jemand über die Schulter lugte. Vielleicht fand sie, was sie so störte.
Unter dem Mikroskop betrachtete sie nun noch einmal die Asservate, die sie aus dem männlichen Obduzierten entnommen hatten. Irgendetwas befand sich darin, dass sie nicht zuordnen konnte. Doch eines war sicher, was immer es auch war, es gehörte da nicht hin, nicht in einen menschlichen Körper. Ob tot oder lebendig war dabei egal. Für dessen Tod war das Zeug freilich nicht verantwortlich. Tamara kniff die Augen zusammen, damit ihr nicht das kleinste Detail an dem Asservat entging. Dann fiel es ihr plötzlich ein. So etwas hatte sie schon einmal gesehen. Das war ganz zu Anfang ihrer Facharztausbilung gewesen.
Eilig lief sie zum PC hinüber und holte sich aus dem Netz die Fotodokumentationen einiger dieser alten Fälle auf den Bildschirm. Zum Glück kannte sie sich in der Datenbank gut aus, schließlich hatte sie das Dateisystem damals organisiert. Solche Aufgaben durften traditionell die Weiterbildungsassistenten in den ersten Jahren ihrer Ausbildung übernehmen. Bei ihr war das keine Ausnahme gewesen. Zudem war das System in den letzten Jahren zentralisiert worden, sodass alle rechtsmedizinischen Institute in Deutschland darauf Zugriff hatten. Sie kannte sich gut in der Datenbank aus. Akribisch verglich Tamara die gespeicherten Fotos mit dem, was sie heute hier unter dem Mikroskop hatte. Diese Ablagerungen in der Gewebeprobe, die sie aus der Leber des Toten entnommen hatten, sah tatsächlich so ähnlich aus wie die alten Proben von damals. Es war nur um einiges mehr. Solche Mengen an Ablagerungen in den Innenorganen hätten über kurz oder lang ganz sicher zum Tod geführt. Vermutlich hatte der Mann bereits zu Lebzeiten Beeinträchtigungen gehabt.
Tamara stutzte überrascht, als sie das ursprüngliche Sektionsprotokoll durchsah. Auch das waren Fälle, die Dr. Gersting bearbeitet hatte. Sie las den Obduktionsbericht noch einmal, doch Dr. Gersting hatte auch damals nichts zu diesen seltsamen Ablagerungen notiert, genauso wenig wie der zweite Rechtsmediziner, ein gewisser Dr. Ernest Franklin. Den kannte sie gar nicht. Den Namen hatte sie noch nie gehört. Das fand Tamara wirklich merkwürdig. Eigentlich waren ihr alle bekannt, die in den letzten Jahren in der Rechtsmedizin in Stuttgart gearbeitet hatten. Rasch überprüfte sie aktuellere Berichte, die Dr. Gersting angefertigt hatte und fand zu ihrem Erstaunen in einigen weiteren Berichten den gleichen Namen wieder. Was hatte das denn zu bedeuten?
Nachdenklich knabberte Tamara an ihrer Unterlippe. Obduktionen wurden grundsätzlich von zwei Rechtsmedizinern durchgeführt. Das war Vorschrift, schließlich wurde ihr Gutachten bei Gerichtsprozessen verwendet. Da durfte kein Irrtum passieren. Tamara lehnte sich zurück und dachte nach. Es gab keinen Dr. Franklin am Institut. Der Mann hätte ja praktisch schon seit Jahren hier beschäftigt sein müssen, nach all den Unterschriften, die er geleistet hatte, und da wäre sie ihm hundertprozentig schon einmal begegnet. Doch das war sie nicht. Dieser Rechtsmediziner existierte nicht, zumindest nicht im Landeskriminalamt in der Taubenheimerstraße, wo die Rechtsmedizin in Stuttgart ihren Sitz hatte. Betrog Dr. Gersting etwa? Hatte er den Obduktionsbericht etwa gefälscht? Wollte er etwas verbergen? Nein, das ging zu weit, da litt sie vermutlich selber an Paranoia. Was sollte der Mann denn verbergen? Es musste eine Erklärung dafür geben. Sie würde der Sache auf den Grund gehen, diesen Dr. Franklin auftreiben. Und was die mikroskopischen Gewebeproben anging, durfte sie sich auch nicht wundern, dass Dr. Gersting das nicht weiterverfolgt hatte, schließlich waren die Ablagerungen nicht die Todesursache gewesen. Deshalb gab es auch keine Veranlassung einen Pathologen hinzuzuziehen. Vermutlich hatte Dr. Gersting die Gewebeveränderungen nicht einmal erkannt. Er konnte die Pathologen nicht leiden, das hatte er oft genug gesagt. Vermutlich lag das daran, dass Dr. Gersting, im Gegensatz zu ihr, von Pathologie kaum eine Ahnung hatte und sich damit auch nicht auseinandersetzen wollte. Das war ihr schon öfters aufgefallen. Der Mann war in ihren Augen ein Ignorant, berief sich darauf, dass Rechtsmediziner schließlich keine Pathologen waren und das halbe Jahr, das sie in der Pathologie absolvieren mussten, kaum ausreichte, um mehr als an der Oberfläche zu kratzen. Aber etwas mehr Ahnung von dem Thema war sicher nicht verkehrt, befand Tamara. Sie war eben die berühmte Ausnahme, denn sie hatte die Chance genutzt und sich in dem obligatorischen halben Jahr intensiv mit der Problematik auseinandergesetzt und dadurch viel gelernt. Manchmal sahen Organe krank aus und der Besitzer schien an einer natürlichen Ursache verstorben zu sein. Aber das konnte täuschen. Sie kannte Fälle, in denen eine absichtliche Vergiftung zu einem rasanten Zerfall geführt hatte, die dann den Tod verursacht hatte. Die Organe hatten ausgesehen, als hätte der Tote an einer langjährigen Erkrankung gelitten. Ein scheinbar perfekter Mord, weil schwer als solcher zu erkennen. So konnte aus einem Mord schnell ein Totschlag werden, mit einem völlig anderen und vor allem geringeren Strafmaß. Wenn sie das nicht herausfand, dann kam der Täter einfach so davon. Deshalb untersuchte sie grundsätzlich alle Organe auch selber mikroskopisch, wenn sie die Asservate nicht an die Pathologen weiterschicken konnte.
Mit flinken Fingern speicherte Tamara die Berichte. Danach ging sie zurück zum Mikroskop, nahm die Asservate und brachte sie in die Kühlung. Vielleicht sollte sie sich diese Einschlüsse im Gewebe ein anderes Mal noch einmal ansehen. Heute war sie einfach zu müde dafür. Außerdem musste sie noch ein wenig darüber nachdenken, was das bedeuten konnte. Der Mann war jedenfalls durch einen Schlag auf den Kopf gestorben, seine Schädelbasis war mehrfach gebrochen und Gehirnmasse ausgetreten. Somit hatte Dr. Gersting recht, zwar schlampig obduziert, aber die Schlussfolgerung war in Ordnung. Der Fall war also abgeschlossen.
Sorgfältig begann Tamara die restlichen Instrumente und gebrauchten Materialien wegzuräumen. Sie mochte es, einen sauberen Arbeitsplatz zu hinterlassen und überließ das nicht dem Putzteam. Die hatten auch so schon genug zu tun. Energisch schloss sie nach einer halben Stunde die letzte Schublade. Ihr Blick glitt noch einmal prüfend über die Sektionstische.
Die Leichen von den zwei Frauen lagen noch dort, die Eröffnungsschnitte wieder säuberlich vernäht, die Augen geschlossen. Tamara betrachtete sie mit ungutem Gefühl. Eine von ihnen war schon ziemlich alt, beinahe neunzig Jahre, die andere noch jung, fast noch ein Kind, Anfang zwanzig. Auf den ersten Blick hatten die beiden Frauen nichts gemeinsam, außer dass sie schlank waren, sogar die Neunzigjährige. Die junge Frau war sportlich gewesen, gut trainiert, ihre Muskulatur war sogar im Tod noch gut definiert. Zu Lebzeiten musste sie ziemlich fit gewesen sein. Tamara nahm ihr Tablet zur Hand und betrachtete noch einmal die Ergebnisse der Blutwerte beider Frauen. Ziemlich normal, sogar bei der alten Frau. Die Staatsanwaltschaft hatte die Frauen einliefern lassen, direkt aus der Stroke Unit. Beide Frauen waren an einer Ischämie gestorben, somit eigentlich an einer natürlichen Ursache, doch die Angehörigen bestanden darauf, dass die Rettungssanitäter Behandlungsfehler gemacht hatten. Soweit so gut. Das kam manchmal vor, dass hysterische Angehörige in ihrer Trauer über das Ziel hinausschossen, aber solche Anschuldigen wogen schwer und mussten ausgeräumt werden. Insofern hatten sie und ihr Kollege sich Mühe gegeben, die Sektionsergebnisse von Dr. Gersting noch einmal nachzuvollziehen.
Читать дальше