Helmut ging voran durch den Haupteingang hinein. Die Cafeteria des Krankenhauses befand sich gleich schräg gegenüber vom Eingang. Helmut holte Kaffee für alle, während Miriam ihre Mutter zu einem der Tische dirigierte. Bei Erna brach die Selbstbeherrschung zusammen. Sie fing an zu weinen.
»Mama, bitte!«
Miriam nahm ihre Hand. Ihre Mutter hing an Corinna, genauso wie an ihrer eigenen Tochter. Es spielte keine Rolle, dass Corinna nicht ihr leibliches Kind war.
»Wir sind ziemlich geschockt. Wusstest du, dass Schlaganfälle die dritthäufigste Todesursache sind?«
»Ich weiß eigentlich nicht viel darüber«, antwortete Miriam verhalten.
»Es ist schlimm. Hoffentlich können sie ihr helfen. Ich habe gehört, dass die meisten in den ersten vier Wochen versterben.«
Erna schluchzte herzerweichend.
»Aber du hast doch gesagt, dass es ihr nicht so schlecht geht«, versuchte Miriam ihre Mutter zu beruhigen.
»Ja, du hast recht. Wir sollten uns nicht so aufregen, bevor wir nichts Näheres wissen. Die Ärzte gehen sowieso von einer Migräne aus, aber das halte ich auch für Unfug.«
Helmut schüttelte entrüstet den Kopf.
»Wieso denn Migräne?«
»Na wegen der Sehstörungen und weil sie sonst keine Lähmungen hat. Sie war eben so gesund. Das hat bestimmt geholfen, wenn du mich fragst. Kein Cholesterin, kein Bluthochdruck, trinkt nicht, raucht nicht, ist sportlich, kein Zucker und so weiter. Da fehlen dann schon mal die logischen Erklärungen, die Ärzte eben so brauchen.« Helmut zuckte mit den Schultern.
Miriam trank ihren Kaffee leer und hielt tröstend die Hand ihrer Mutter für eine Weile. Erna zitterte am ganzen Körper, obwohl es ziemlich warm war. Das nahm sie ganz schön mit. Auch Helmut ließ den Kopf hängen. Er sah so mutlos aus. Miriam war nicht bereit, so schnell aufzugeben. Sie kannte Corinna. Die würde das schon schaffen. Aufmunternd drückte Miriam die Hand ihrer Mutter.
»Die Stunde ist um. Wollen wir nach ihr sehen?«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Uhr.
Die beiden nickten. Zusammen gingen sie in die Stroke Unit. Corinna lag im ersten Zimmer. Miriam erschrak ein wenig, denn das linke Auge ihrer Schwester bewegte sich nicht und blickte in eine ganz andere Richtung, als das rechte. Es sah irgendwie gruselig aus. Miriam beherrschte ihre Gefühle. Corinna sollte ihr den Schreck nicht anmerken.
»Hallo Corinna, wie geht es dir?« Miriam strich ihrer Schwester ein paar Strähnen roten Haares aus der Stirn.
»Besser, als denen da.«
Corinna deutete auf die anderen beiden Betten in denen Menschen lagen, ziemlich alte, wie Miriam nach einem kurzen Blick feststellen konnte. Sie bewegten sich nicht.
»Bis auf deine Augen siehst du auch so aus wie immer.« Miriam musterte ihre Schwester gründlich.
Corinna schnaubte kurz. »Wie immer? Ich schiele und sehe doppelte Bilder. Davon ist mir ständig übel und schwindelig. Außerdem komme ich gerade mal bis ins Bad gegenüber. Mehr schaffe ich nicht. Wofür bin ich eigentlich dreimal die Woche zehn Kilometer gewalkt?«
Corinna haderte mit ihrem Schicksal. So kannte Miriam sie gar nicht. Meistens war ihre Schwester der Inbegriff von Tatkraft und jammern gab es nicht.
»Wenigstens kannst du gehen«, rutschte es Miriam heraus.
»Ja, und Glück hatte ich auch noch dabei, oder was?«, antwortete Corinna genervt und nestelte an ihrer Infusion herum.
»Nein, das wollte ich so nicht sagen. Ich bin froh, dass du noch lebst.« Miriam drückte die Hand von Corinna in der keine Nadel steckte.
»Ich weiß, ich weiß. Ich kann mich nicht damit abfinden. Gerade konnte ich noch zehn Kilometer problemlos laufen, danach den Garten umpflügen und noch einen Kuchen backen und jetzt schaffe ich es kaum mir die Zähne zu putzen. Das ist so schlimm.«
Tränen traten in Corinnas Augen.
Helmut nahm sie in den Arm. Es wurde still im Zimmer. Nur das Piepen der Überwachungsgeräte störte die Ruhe. Dann schlief Corinna ein.
»Ich bleibe da. Sie schläft zwar die meiste Zeit, aber es ist gut, wenn jemand von uns bei ihr ist, wenn sie wieder aufwacht. Der Schlaganfall war sehr anstrengend für sie.«
»Ja, danke, Erna. Ich muss mich dringend hinlegen und ich sollte noch etwas arbeiten. Ich komme abends wieder.«
Helmut gab Erna einen Kuss auf die Stirn und ging.
Miriam setzte sich auf einen der Stühle.
»Irgendwie kann ich das nicht glauben. Sie war doch so gesund. Hat sie nicht letztens sogar ein Blutbild machen lassen? Da hätten die das doch sehen müssen!«
»Haben sie aber nicht. Die Ärzte sind sich nicht sicher, was sie hat. Aber Corinna meint, dass sie definitiv einen Schlaganfall hatte. Warten wir ab. Hauptsache sie wird wieder gesund.« Erna versuchte sich Zuversicht einzureden.
Miriam überlegte, ob sie das auch versuchen sollte, aber das war gar nicht so einfach. Diese ganze Umgebung hier hatte ihr schon einen ziemlichen Schock versetzt. Wenn sie die anderen Patienten ansah, wurde ihr ganz anders. Trotzdem, sie kannte ihre Schwester, die war sehr stark und zielstrebig, sie würde das schaffen. Nach einer Weile nahm ihre Unruhe zu. Im Augenblick konnte sie hier nicht viel ausrichten und sie musste ja auch noch arbeiten.
»Mama, ich komme auch abends wieder. Ich muss noch etwas erledigen«.
Miriam stand auf. Ihr war gerade eine Idee gekommen. Ihre Mutter nickte abwesend und widmete sich dann wieder Corinna. Leise verließ Miriam das Zimmer und ging zu ihrem Auto.
Auf dem Weg nach Filderstadt überlegte Miriam Schlohwächter, wie sie weiter vorgehen wollte. Für Corinna konnte sie im Augenblick nichts tun und im Krankenhaus abzuhängen brachte weder ihrer Schwester noch ihr selbst etwas. Miriam entschloss sich zu der Kläranlage Fleinsbach im Industriegebiet in Stetten zu fahren. Vielleicht konnte sie mit ein paar Leuten sprechen. Rogers Bemerkung über Schadstoffe im Trinkwasser hatte sie auf die Idee gebracht.
Nachdem Miriam ihr Auto am Straßenrand geparkt hatte, lugte sie über den Zaun. Es sah alles recht ruhig aus. Kein Mensch war zu sehen. Wie ein Einbrecher schlich sie sich durch das Tor hinein und bis nach vorne zu den Klärbecken. Der Geruch in der Luft war unangenehm. Durch das warme Wetter stank das Klärbecken mehr als sonst. Miriam warf einen angewiderten Blick auf die schlammgrüne Flüssigkeit, die träge in einem der Becken trieb. Ein Mann in Arbeitskleidung stand auf der anderen Seite am Rand des Beckens. Er kehrte ihr den Rücken zu. Miriam überlegte, ob sie sich wieder hinausschleichen sollte, entschied sich dann aber anders. Sie räusperte sich leise.
Der Mann drehte sich abrupt zu ihr um und sah sie mit abweisendem Gesichtsausdruck an. Dann kam er mit raschen Schritten zu ihr herüber. »Die Anlage ist für den Publikumsverkehr geschlossen«, sagte er bestimmt.
Miriam zückte ihren Presseausweis, so wie im Film. »Mein Name ist Miriam Schlohwächter. Ich bin Journalistin beim „Filderstädter“ . Wir machen eine Recherche über wichtige Einrichtungen der Gemeinde.«
Das war zwar nicht ganz richtig, aber der Zweck heiligte bekanntlich die Mittel.
»Da müssen Sie sich an die Presseabteilung wenden. Ich kann nichts dazu sagen«.
Er schüttelte abwehrend den Kopf und deutete mit einer Handbewegung auf den Ausgang. »Sie dürfen nicht hier sein.«
»Halt, nein, bitte. Ich möchte nur verstehen, wie das Ganze hier funktioniert, in der Praxis. Broschüren habe ich schon, aber das reicht nicht um unseren Abonnenten einen richtigen Eindruck zu vermitteln.«
Miriam setzte ihr schönstes Lächeln auf, das sie hatte, doch vergebens, der Mann war immun dagegen.
»Sie können gerne am Tag der offenen Tür wiederkommen. Ich darf das nicht.«
Zögernd setzte Miriam sich Richtung Ausgang in Bewegung. Heute würde sie keine Auskünfte bekommen und das Nerven hob sie sich lieber für einen anderen Zeitpunkt auf. Wer weiß, was sich während ihrer Recherche noch ergab.
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