Die Tür ging auf und ein Kopf erschien.
»Bin gleich soweit!«, rief ihr Kollege laut gegen die Musik an.
Tamara nickte nur und stellte die Anlage wieder aus. Das hätte sie sowieso gleich getan, da sie die Würde des Toten nicht stören wollte, konnte sie doch nicht wissen, ob Volker Röhn zu Lebzeiten diese Musik gemocht hätte. Vermutlich eher nicht, denn der Mann war ja schon über siebzig. Da hörte man wohl eher Klassik oder Schlager. Sie öffnete das Kühlfach und holte den Leichnam heraus.
Nackt und bloß lag er nun vor ihr. Seine wächserne Haut war eiskalt, die Leichenflecke bereits sehr ausgeprägt. Trotz der Kühlung ging der Körper in die Verwesung über. Der Geruch setzte nach einer Weile ein. Sie hatte sich daran gewöhnt. Es störte sie nicht. Ansonsten hätte sie diese Arbeit nicht machen können.
Kurz überlegte sie, warum sich jemand wie er umbrachte. Vielleicht Einsamkeit? Krankheit? Oder etwas anderes? Vermutlich würde sie das nie erfahren.
Dr. Archibald Meister betrat den Sektionssaal in voller Montur und gesellte sich zu ihr. Tamara nickte ihm zu und fing an die Einstiche und Schnitte an der Leiche zu begutachten. Es waren viele und es war auf den ersten Blick zu sehen, dass das kein Selbstmord war. Der Mann war über und über mit Stichen übersät, so als hätte er sich selbst zerfleischen wollen. Doch so etwas war einfach nicht möglich. Niemand schaffte es, sich so viele Schnitte und Stiche selbst zuzufügen, nicht einmal im Drogenwahn und Drogen hatte der Mann keine im Blut gehabt. Verwirrt starrte Tamara auf die Leiche. Ihr Kollege schien ihre Verwirrung zu teilen, sagte aber nichts dazu. Was sollte sie nun tun? Warum hatte Dr. Gersting den Fall als Selbstmord eingetragen? Hatte er sich etwa in der Leiche geirrt? Das hier musste richtiggestellt werden. Seufzend begann sie zu diktieren. Die Obduktion dauerte den ganzen Samstag. Der Mann hatte sogar im Rücken Einstiche. Es mussten mehrere Täter gewesen sein, schloss Tamara daraus.
Archibald Meister teilte ihre Meinung. Die Täter mussten sich in einem wahren Blutrausch befunden haben, voller Hass. Tamara legte das Obduktionsbesteck zur Seite, nachdem sie Volker Röhn wieder sorgfältig zugenäht hatte und schob ihn dann zurück in das Kühlfach. Archibald Meister räumte auf, während sie das Sektionsprotokoll ergänzte.
Todesart: nicht natürlich
Todesursache: Verletzungen durch scharfe Gewalteinwirkung, multiple Einstiche mit hohem Blutverlust.
Sie fügte noch die Fotos bei, die Dr. Gersting ebenfalls nicht gemacht hatte. Archibald Meister zeichnete es kommentarlos gegen. Ihr Kollege hielt sich offenbar aus der Sache heraus, aber sie sah ihm an, dass er diese Fehleinschätzung auch nicht verstand. Mit einem kurzen Wink ging er und überließ ihr den Rest. Mit der Schlamperei sollte sich der Leiter der Rechtsmedizin auseinandersetzen. Tamara gab ihm im Stillen Recht. Das war nicht ihr Problem und nicht ihre Verantwortung. Sie hatten ihre Pflicht getan.
Ziemlich geschafft verließ sie die Rechtsmedizin, holte sich noch einen vegetarischen Burger im nächsten Fastfoodladen, den sie hungrig noch im Auto hinunterschlang. Nach Obduktionen hatte sie immer einen riesen Kohldampf, warum auch immer. Sie hatte heute nicht das Motorrad genommen, da der Wetterbericht Regen angekündigt hatte, der natürlich ausgeblieben war. Ohne Hast startete sie den Wagen und verließ den Parkplatz des Burgerladens. Sehnsüchtig warf sie einen Blick in den Himmel. Mit dem Motorrad wäre es eine perfekte Fahrt geworden.
Miriam Schlohwächter schlief normalerweise tief und fest wie ein Murmeltier im Winterschlaf, doch diese Nacht hatte sie sich von einer Seite auf die andere gewälzt und über all die schlimmen Ereignisse nachgedacht. Dementsprechend gerädert fühlte sie sich am Morgen. Um neun Uhr schien ihr dann auch noch unerbittlich die heiße Sonne auf die Nase. Mit einem herzerweichenden Seufzer schwang sie ihre Beine über den Rand des Bettes. Es machte keinen Sinn weiter liegen zu bleiben, denn das wurde ja doch nichts mehr. Sie konnte den fehlenden Schlaf nicht nachholen, das hatte sie noch nie gekonnt. Rasch zog sie eine kurze Hose und Laufschuhe an und ging eine Runde joggen. Nicht dass sie besonders sportlich wäre, aber der Zustand ihrer Schwester gab ihr nun doch zu denken. Etwas mehr Bewegung konnte ihr sicher nicht schaden. Ziemlich verschwitzt war sie nach einer Dreiviertelstunde wieder zurück. Miriam fühlte sich tatsächlich etwas besser. Das sollte sie vielleicht öfters machen. Schnell rief sie noch Helmut, ihren Schwager, an und vereinbarte mit ihm, dass sie nachmittags ins Esslinger Krankenhaus fahren würde. Corinna ging es soweit gut. Es gab keine Veränderung und soweit sie das verstanden hatte, würde es auch eine Ewigkeit dauern, bis es wieder besser wurde. Die Erfahrungsberichte, die sie im Internet gefunden hatte, sprachen alle von mindestens eineinhalb bis zu mehreren Jahren.
Miriam duschte ausgiebig, ging dann zum Wochenmarkt und kaufte ein paar Brötchen, Obst und Gemüse. Auf dem Rückweg angelte sie sich den „Filderstädter“ aus dem Postkasten, die Samstagsausgabe. Sie war neugierig darauf, ob Karl Müller alles genauso übernommen hatte, wie sie es geschrieben hatte. Miriam legte die Zeitung auf den schmalen Balkontisch, der an der Brüstung hing, machte sich Kaffee, Brötchen, schnitt einen Apfel klein und trug alles auf den Balkon hinaus. Wäre Corinna nicht so krank, wäre das ein wunderbarer Tag geworden, bei dem schönen Wetter. Heute würde es bestimmt warm werden, soviel stand fest. Dieser April hatte es in sich, benahm sich, als wäre er ein Sommermonat.
Miriams Wohnung befand sich im obersten Stockwerk eines Mehrparteienhauses. Im Sommer wurde es manchmal ganz schön warm drinnen. Die Wohnung war nicht groß, bestand nur aus zwei Zimmern und einem Balkon, war aber gut ausgestattet und noch wichtiger, bezahlbar. Das Haus war schon in den 1990er Jahren gebaut worden. Der Balkon lag auf der Nordseite des Wohnblocks, was bei heißem Wetter ein Vorteil war. Außerdem konnte sie die Filderebene überblicken und den Betrieb auf dem Flughafen beobachten. Das war aber auch schon alles, was sie am Stadtteil Plattenhardt gut fand. Miriam hatte schon mehrmals überlegt umzuziehen, aber es war gar nicht so einfach eine Wohnung zu finden, ganz davon abgesehen, dass sie ihr ja auch noch gefallen musste. Ganz wegziehen von Filderstadt wollte sie nicht, denn die Anbindung an die großen Verkehrsadern des Landes Baden-Württemberg waren wirklich sehr gut. Außerdem befand sich die Bushaltestelle direkt vor der Haustür, was ein unschätzbarer Vorteil war, da Miriam des Öfteren kein Geld für Benzin hatte und deshalb den Bus nehmen musste.
Miriam griff zur Zeitung. Es war Zeit sich ihr Werk anzusehen. Ein wenig aufgeregt klappte sie sie auseinander und stutzte. Karl Müller hatte ihren Artikel auf der ersten Seite platziert. Wow! Das war das erste Mal, dass ihr Artikel den Spitzenplatz hatte. Sie las ihn sorgfältig durch. Karl hatte fast nichts geändert. Die Ausgabe würde sie sich aufheben. So oft kam das nicht vor. Das lag bestimmt an dem Thema. Meistens bekamen die beiden Journalisten, die schon seit Jahren für die Zeitung arbeiteten, die interessanten Sachen ab, deshalb blieben für Miriam nur die Brotkrumen. Offenbar war sie jetzt lange genug dabei und hatte sich ihre Lorbeeren verdient.
»Vielleicht bekomme ich dann auch eine Gehaltserhöhung? Mein Konto könnte eine Auffrischung durchaus gebrauchen. Ich kann nicht schon wieder meine Mutter bitten, mir etwas zu leihen, zumal die überhaupt kein Verständnis für meine absolut weibliche Vorliebe für Schuhe hat« , überlegte Miriam hoffnungsvoll und legte die Zeitung zu den Büchern ins Regal.
Wenig später fuhr Miriam ins Krankenhaus nach Esslingen zu Corinna. Sie unterhielten sich eine Weile, dann überließ sie Corinna ihrer Mutter und ihrem Schwager, denn ihr war gerade etwas eingefallen.
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