Karl Müller war, im Gegensatz zu Miriam, ein Frühaufsteher. Jeden Tag war er bereits um 5:00 Uhr morgens unterwegs, Kühe füttern und melken, Pflanzen gießen und was sonst noch alles anfiel, denn Karl Müller war im Nebenberuf Landwirt, da er von dem mageren Gehalt, welches ihm die Zeitung bezahlte, auch nicht leben, geschweige denn eine Familie davon ernähren konnte. In den letzten Jahren waren die Gehälter der Medienschaffenden schon wieder geschrumpft. Für Miriam, die als freie Journalistin arbeitete, war das sowieso so eine Sache mit dem Verdienst, denn bezahlt wurde sie erst, wenn sie etwas Brauchbares abgeliefert hatte. Das bedeutete zwar auch viel Freiheit, aber ohne den Zweitjob hätte sie ihren Lebensunterhalt nicht finanzieren können. Die kleine Galerie in der Innenstadt von Stuttgart, war für Miriam eine wichtige Einnahmequelle. Sie bekam zwar auch nicht viel dafür, dass sie Kunstgegenstände an den Mann, beziehungsweise an die Frau brachte und das vorzugsweise von sieben Uhr abends bis elf Uhr nachts, aber ohne diesen Job hätte sie nicht einmal ein Auto. Alles in allem kam sie über die Runden, aber toll war es nicht.
»Vielleicht sollte ich mir endlich einmal einen richtigen Job mit einer festen Anstellung suchen« , überlegte Miriam und rubbelte ihre Haare trocken.
Das würde aber bedeuten, ihr freies Leben aufzugeben und das mochte sie einfach zu gerne, auch wenn sie des Öfteren am Hungertuch nagte. Hoffentlich hatte Karl Müller etwas Interessantes für sie, wenn er schon so früh anrief. Er schien aber immer noch zu überlegen, wie er es sagen wollte, so lange wie er brauchte, mit der Sprache herauszurücken.
»Also, was ist los?«
Miriam warf ihr nasses Handtuch mit Schwung in die Badewanne, während sie rasch in ihre Wäsche schlüpfte. So ganz nackt wollte sie nicht telefonieren, auch wenn Karl Müller das nicht sehen konnte.
Karl Müller räusperte sich ein paar Mal, bevor er loslegte.
»Miri, es gab einen Mordfall. In Echterdingen-Stetten. Heute früh. Ein gewisser Volker Röhn. Die Polizei ist noch da. Häng dich dran!«
Miriam konnte die Hoffnung heraushören, endlich einmal über etwas anderes in dem Käseblatt, für das sie beide arbeiteten, berichten zu können, als über das nächste Hagelunwetter oder nicht abgeholten Biomüll.
Doch gleich ein Mordfall? Und sie sollte dies übernehmen? Miriam verspürte leichten Druck in ihrer Magengegend. Sollte sie jetzt etwa begeistert sein?
»Also gut, Karl. Schick mir die Adresse auf mein Smartphone. Wir sehen uns später in der Redaktion«.
Miriam blieb ein paar Sekunden stehen und starrte ihr Spiegelbild an. Eigentlich hatte sie heute vorgehabt nur kurz in die Redaktion zu gehen, danach endlich einmal einzukaufen, denn ihr Kühlschrank war ratzeleer. Danach wollte sie sich irgendwo, an irgendeinem See, eine Tasse Kaffee gönnen. Mit Karls Anruf fiel ihr Faulenzertag nun wohl ins Wasser. Wenigstens musste sie nicht weit fahren. Miriam wohnte in Filderstadt, der Nachbargemeinde von Leinfelden-Echterdingen, da lag der Tatort praktisch vor ihrer Haustür. Seufzend zog sie sich an, schnappte sich ihre Handtasche und lief die Treppe hinunter. Ihr Auto stand in der Tiefgarage. Sie tippte die Adresse in das Navi, während sie losfuhr.
Wenig später war sie an dem Haus am Ortsrand von Echterdingen-Stetten angekommen. Stetten war ein kleiner Stadtteil, der oben auf der Weidacher Höhe lag, einem vierhundertsiebzig Meter hohen Bergkamm. Hinter dem Ortsteil gab es nur noch Felder und den Wald. Auf der anderen Seite des Waldes ging es steil nach unten, in das Siebenmühlental. Der Bergkamm ragte wie ein Schiff in die Filderhochfläche hinein. Kein Wunder, dass die Kelten gefallen an dieser Gegend gefunden hatten. Der Ausblick über die Filderebene war großartig. Bei klarem Wetter konnte man von hier oben sogar die drei Kaiserberge Hohenstaufen, Rechberg und Stuifen am Rand der Schwäbischen Alb erkennen, Zeugenberge einer Jahrmillionen andauernden Verwitterung.
Die Polizei war noch da, so wie Karl gesagt hatte. Von den anderen Pressevertretern, die sich sonst an so einem Tatort herumdrückten, war nichts zu sehen. Der Tipp musste ziemlich heiß sein, den Karl Müller da bekommen hatte. Das Ermittlungsteam der Mordkommission war gerade dabei, das Haus zu sichern. Das Haus war nichts besonderes, eher einfach gehalten, schon etwas älteren Baudatums, mit einem kleinen Garten rundherum, umgeben von einem niedrigen Zaun. Frühjahrsblumen blühten auf gut gepflegten Beeten. Die Büsche waren geschnitten und mit frischem Grün übersät. Es gab nur einen einzigen hohen Baum in dem Garten hinter dem Haus. Seine Zweige ragten über das Dach hinaus, so als wollten sie es beschützen.
Miriam stellte ihr Auto am Straßenrand gegenüber ab, stieg aber nicht aus. Stattdessen überlegte sie, wie sie es anstellen sollte, in das Haus hineinzukommen. Vermutlich hatte sie gar keine Chance. Vielleicht sollte sie fahren und einen offiziellen Besichtigungstermin beantragen. Doch dann entschied sie sich anders, denn sie erspähte Bernd Obermeier an der Einfahrt zum Haus neben seinem Polizeiauto stehend. Vielleicht konnte sie doch noch einen Blick auf den Tatort werfen. Sollte sie wirklich so viel Glück haben? Bernd Obermeier war ein alter Bekannter von ihr, aus der Schulzeit, und er hatte schon seit damals eine kleine Schwäche für sie. Miriam gedachte, das ein wenig auszunutzen. Ein paar Fotos vom Tatort wären toll, bevor die Spurensicherung das Haus versiegelte. Miriam stieg aus dem Auto, zupfte ihren kurzen Rock zurecht, während sie sich verstohlen umsah. Durch die offenen Fenster des Hauses konnte sie die Leute von der Spurensicherung sehen, die offenbar gerade dabei waren zusammen zu räumen. Langsam schlenderte sie näher. Jetzt bloß nicht den falschen Eindruck erwecken. Ihre Kamera hatte sie vorsorglich nicht ausgepackt. Bernd mochte das nicht. Er wollte nicht überrumpelt werden und das konnte sie gut verstehen. Bernd sah ihr wie immer mit gespielt genervtem Gesichtsausdruck entgegen. Miriam lächelte ihn freundlich an.
»Miri, so früh?«, sagte Bernd Obermeier gedehnt, grinste aber zurück.
»Hi, Bernd. Du kennst mich doch. Wenn es etwas Interessantes gibt, dann bin ich zur Stelle. Ihr seid schon fertig?«
Miriam gab sich Mühe ihre Stimme samtig und ein wenig rauchig klingen zu lassen.
»Du kannst nicht hinein. Ist eine ziemliche Sauerei. Und nein, die Spurensicherung ist noch nicht durch.«
Er warf einen Blick zu seinen Kollegen hinüber, die gerade aus ihren Anzügen schlüpften, was seine Aussage Lügen strafte.
»Hm, für mich sehen deine Kollegen aus, als wären sie fertig. Nur ein Foto, ok?«
»Miri, du weißt, dass ich das nicht darf.«
»Du könntest bei denen dort ein Wort für mich einlegen. Immerhin ist der „Filderstädter“ eine regionale Zeitung und die Menschen kennen uns. Bitte!«
Miriam klimperte ein wenig mit den Wimpern. Nicht zu viel, sonst würde er das möglicherweise noch falsch verstehen. Immerhin wollte sie ihn nicht auf abwegige Ideen bringen. Sie mochte Bernd zwar gern, aber mehr war da nicht.
Bernd Obermeier seufzte resigniert, drehte sich um und ging zu den Kollegen von der Spurensicherung hinüber. Es gab einen längeren Disput, doch schließlich winkte er Miriam zu.
»Nur ein Foto und du stimmst den Bericht mit uns ab, bevor er erscheint.«
Miriam zog eine Schnute. Was sollte das denn heißen? Und wo blieb denn da die Pressefreiheit? Trotzdem nickte sie und ging dann ins Haus. Sie machte ihre Aufnahmen, natürlich mehr als eine, während ihr Bernd Obermeier nicht von der Seite wich.
Im Haus sah es schrecklich aus. Das Wohnzimmer war total verwüstet. Das Sofa war umgeworfen worden, die Stühle zerschlagen. Der Fernseher lag auf dem Boden, ein einziges Trümmerfeld. Sämtliche Bücher waren aus den Regalen gerissen worden. Es sah aus, als wäre ein Hurrikan durch den Raum gezogen und hätte alles kurz und klein geschlagen. Neben dem Sofa war eine Menge Blut auf dem Boden. Der Leichnam wurde gerade in einen Sack verpackt und dann hinausgetragen. Miriam konnte nur einen kurzen Blick darauf erhaschen, da es zu schnell ging, aber es war tatsächlich ein älterer Mann. Volker Röhn. Sein Gesicht war blutüberströmt und verzerrt, die Augen weit aufgerissen, ebenso der Mund. Er musste einen schrecklichen Tod gestorben sein. Miriam schluckte ein paar Mal, um die Übelkeit, die sie befiel zu vertreiben. Das ging ihr ziemlich nahe. Es war wirklich furchtbar. Außerdem war dies hier ihr erster Mordfall. Sie hatte noch nie eine Leiche gesehen und schon gar keine, die durch Gewalt zu Tode gekommen war.
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