1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Natürlich machte mir das nichts aus.
Ich legte den Löffel neben den Teller und rannte los.
Wer so höflich gebeten wird, der wird doch nicht zögerlich sein.
Nach ganz kurzer Zeit schon war ich mit dem dicksten Scheit, das ich finden konnte, wieder zurück.
"Vielen Dank", sagte Hans, stellte den Stumpen aufrecht neben meinen Teller und legte fürsorglich meinen Kopf darauf.
"Siehst du? Jetzt hast du es bequemer und brauchst den Kopf nicht mehr mehr mit der Hand abzustützen, so dass du den Löffel in die linke Hand nehmen kannst, wie es Sitte ist."
Mit puterrotem Gesicht beugte ich mich tief über meinen Teller, während meine Schwester fast die Suppe über den Tisch geprustet hätte, so dass sie von meiner Mutter einen Klapps in den Nacken bekam.
Sonst hätte sie wahrscheinlich noch Schluckauf bekommen vor lauter Lachen mit Suppe im Mund.
Auch diese Geschichte werden wir heute noch mehrfach hören, das weiß ich ganz sicher.
Der Liqueur, den meine Frau für die Damen bereitet hat, wird meine Schwester schon ordentlich in Fahrt bringen, darauf kann ich mich verlassen.
Manchmal erzählte Hans von zu Hause, dem Scharfrichterhaushalt in Bremen.
"Bremen ist eine große Stadt, viel größer als eure kleine Festungsvorstadt hier", erklärte er uns.
"Und reich ist sie auch. Es wird viel Handel getrieben dort oben an der Weser und sehr viel Geld damit verdient.
In Bremen sind die Häuser aus richtigen Ziegeln gebaut, nicht aus Baumstämmen mit Lehmschmiere dazwischen, wie man das hier macht.
Und alles ist immer voller Segelschiffe.
Als Junge bin ich jeden Tag an der Schlachte gewesen, so nennen wir den Hafen.
Man hat ihn jetzt etwas weiter unten nach Vegesack verlegt, weil die Weser immer flacher wurde durch den Sand, den sie auf ihrem Weg mitnimmt. Aber ein kleiner Hafen für die flachen Boote ist an der Schlachte immer noch.“
Und dann erzählte er uns, dass damals, als er noch ein kleiner Junge war, plötzlich die eine Spitze des Domes heruntergestürzt war.
Was ein Dom war, wussten wir nicht.
Wir kannten nur die Marienkirche in der Heinrichstadt, wie wir die Festung nennen.
Hans erklärte uns, ein Dom sei viel viel größer als eine Kirche und so schwer, dass er bestimmt in "eurem sumpfigen Wolfenbüttel", wie er sich ausdrückte, bis über beide Spitzen versackt wäre.
Meine Mutter wusste natürlich, was ein Dom war, denn Braunschweig hat auch einen solchen und sie erklärte, dass es völlig undenkbar sei, dass der im sumpfigen Grund einfach versacken würde.
„Ihr erzählt den Kindern ja merkwürdige Geschichten, Hans Paschen aus Bremen. Wer das wohl glauben mag?“
Aber sie war doch gern dabei, wenn er uns abends in der Küche bei den gemütlichen Geräuschen des Herdes unterhielt.
Hansens Eltern müssen recht strenge Leute gewesen sein, wenn man seinen Erzählungen glauben durfte.
Darum war er es gewohnt, sehr pünktlich und ordentlich seine Arbeit zu machen und auch alles genau aufzuschreiben und abzurechnen.
Später, als mir die Scharfrichterei von ihm übertragen wurde, übernahm ich auch ein dickes Buch, in dem akribisch jede Tätigkeit und die dafür in Rechnung gestellte Gebühr aufgelistet war.
In einer dritten Spalte wurde aufgeführt, welche Tätigkeiten bereits bezahlt und welche noch offen waren.
Auch da war Hans unerbittlich.
Ausstehende Gelder trieb er ein, seine Knechte bezahlte er pünktlich.
Da er dieses Rechnungsbuch über viele Jahre führte, konnte ich daraus erlesen, wie sich seine Tätigkeiten beziehungsweise die Bezahlung dafür im Laufe der Zeit verändert hatten.
So rechnete er in den ersten Jahren noch über sechzig Torturen im Jahr und mehrere Wasserproben ab, später schrumpften sie auf sieben Torturen und nur noch eine Wasserprobe.
Ich muss sagen, heute sind diese Wasserproben, bei denen die der Hexerei Beschuldigten gefesselt ins Wasser geworfen werden, ganz aus der Mode gekommen.
So richtig glaubt auch niemand mehr an Hexerei und Teufelszeug und die Vergehen, wegen der die Todesstrafe verhängt wird, sind sehr wenige geworden.
Wenn das so weitergeht, wird es womöglich irgendwann gar keine Scharfrichter mehr geben.
Aber so weit wird es schon nicht kommen, dafür sind die Menschen zu schlecht.
Viel häufiger als das Torquieren oder das Henken taucht in den langen Zahlenkolonnen das Reinigen der Kanäle der Heinrichstadt und der Schlosskloaken auf.
Im Gegensatz zu Förster war Hans immer sehr gewissenhaft mit der Reinigung und ebenso mit dem Eintreiben der Gelder.
Auch für das Kurieren der Bauern, die im Herrendienst zu Schaden gekommen waren, kassierte er das Geld ein, häufig zwischen drei und zehn Talern pro erfolgreicher Behandlung.
Wie schon mein Vater war auch Hans Adam geschickt bei der Behandlung von Stauchungen, Verrenkungen, Brüchen und Prellungen. Meine Mutter lieferte die Arznei dazu, für die die Ausgaben ebenfalls getreulich in das Buch eingetragen wurden.
So gingen die Jahre ins Land und als Hans, genannt Paschen, drei Jahre bei uns aus- und eingegangen war, willigte meine Mutter ein, seine Frau zu werden.
Am 21. Mai 1651 heirateten sie in der Kirche zu Groß Stöckheim und ich durfte, jetzt fast fünf Jahre alt und schon ein großer Junge, die Taufkerze vorweg tragen.
Hinter mir gingen meine beiden kleinen Schwestern und streuten Blumen aus ihren kleinen Körbchen.
Sie waren etwas albern dabei, aber schließlich waren sie auch noch kleine Kinder. Und Mädchen noch dazu.
Zehn Jahre Altersunterschied lagen zwischen meinen Eltern, aber dass der Geselle die Meisterin heiratet, das gehört bei uns zum guten Ton und niemand findet etwas dabei.
Für uns war Hans inzwischen so sehr Bestandteil der Familie geworden, dass wir uns ein Leben ohne ihn sowieso nicht mehr vorstellen konnten.
Während der Feier auf der Wiese hinter unserem Haus hörte ich zufällig ein Gespräch zwischen einem Onkel und meiner Mutter und machte lange Ohren, weil ich meinen Namen hörte.
"Du weißt, Catharina" hörte ich den Onkel raunen, "der Herzog will, dass der David nach Lemgo geht.
Er soll dort eine ordentliche Erziehung und einen ordentlichen Unterricht bekommen.
Das war mit seinem Vater selig so abgemacht. Denke daran, der Junge wird nächstes Jahr sechs. Es wird Zeit für ihn".
"So eilig ist das nicht", beschied meine Mutter. "Hier bekommt er auch eine ordentliche Erziehung und lernen kann er auch hier im Dorf“.
Ich hatte ja schon erwähnt, dass sie es in manchen Dingen nicht so schätzte, wenn ich nach meinem Vater kam.
Sie fand nicht, dass ich etwas Besonderes wäre und ich musste auch keine besondere Bildung genießen.
Sie hatte es ihrem Mann nie ganz verziehen, dass er die Erbrechte für mich und nicht für den Henrich, ihren Ältesten, eingefordert hatte. Henrich ist mir deswegen nicht gram. Er ist zufrieden mit seinem Leben und sehnt sich nach keinem anderen.
Offenbar hatte also mein Vater Vereinbarungen bezüglich meiner weiteren Ausbildung getroffen.
Davon hatte ich bislang noch nichts gehört, traute mich aber auch nicht, meine Mutter danach zu fragen.
Sie würde mit der Hand wedeln und mich fortscheuchen, das kannte ich schon. Vielleicht würde ich irgendwann Hans fragen, was mit mir geplant ist.
Der Gedanke, die Familie verlassen zu müssen und in das ferne Lemgo geschickt zu werden, machte mir Angst.
Allerdings hatte meine Mutter ja angedeutet, dass sie einen Unterricht im Dorf vorziehen würde.
Und so kam ich ein Jahr darauf mit knapp sechs Jahren in die Stube des alten Günther, Lehrer in Groß Stöckheim.
Schulmeister Günther
Er wurde nicht nur "der alte Günther" genannt, er war auch tatsächlich hochbetagt und hatte nach eigenem Bekunden drei Kriege, drei Mal die Pest und drei Frauen überlebt.
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