Sie: »... mit dem Bein! Also: Ich fühle DAMIT!«
Vielleicht doch mal ...?, aber nein. (Obwohl du neugierig wärst, allerdings nicht, wie sich das Bein anfühlt, sondern eher darauf, WIE es sich anfühlt, also WAS sie mit dem Kunstbein fühlt.)
'Bauchschuss' an deiner anderen Seite ist keiner, Namensgeber ist sein künstlicher Exodarm, der ihn anscheinend zwingt, sich immer mit einer Hand an den Bauch zu fassen, bzw. auf die unter dem Kapuzenpulli befindliche Apparatur, die man durch ein Loch in der Bauchdecke mit den Resten seines von Tumoren aufgefressenen Verdauungstraktes sowie mit seinem Blutkreislaufsystem vernäht hat. Dieses halbwegs ergonomisch geformte Kästchen - es hat ungefähr die Form einer Schildkröte - übernimmt die Aufgaben von Zwölffingerdarm, Dünndarm und Dickdarm gleichermaßen, wohingegen seine Leber (auch die im Original nicht zu retten gewesen) eine in den Körper hineintransplantierte echte Spenderleber sein soll, von einem, der sich selbst die Unsterblichkeit nicht leisten konnte. Dieses Gerät also saugt Nährstoffe aus seinem Magenausgang ab, verwirbelt, spaltet und verdünnt sie mithilfe einer eigens gezüchteten Gerätedarmflora, und transformiert die dabei herauskommenden Endprodukte durch ein nanotechnologisches Meisterwerk der Membranik in eine leistungsfähige, ebenfalls aus dem Bauch heraus- und in das Kästchen hineingezogene Arterie. 'Bauchschuss' also wegen der Körperhaltung, weil er immer so steht oder sitzt, wie von einem Projektil getroffen (und die unter dem Pulli verborgene Technik stellt man sich als herausquillendes Gedärm vor ...), 'Bauchschuss' aber auch, weil Bezeichnungen, die auf '-krebs' oder '-karzinom' enden, unerwünscht sind. Was daran liegt, dass trotz aller Fortschritte die Reinkarnationsmedizin bei Totalausfällen an ihre Grenzen stößt. Und man sich diesem ungelösten Problem nicht auf der Juxebene nähern mag. Zwar heißt der von Metastasen überschwemmte Manfred hinter vorgehaltener Hand ganz genau so: nämlich 'Metastase', aber jeder spricht ihn nur mit »Manni« an, was ihn erst recht zu einem Außenseiter macht zwischen »Legi«, »Bauchschuss«, »Schlaggi« (Schlaganfall), »Absturz« oder mir selbst, der ich auf den Namen »Lunge« getauft werde. Manni ist ein fleischloser, kahlköpfiger und mehr grün- als gelbhäutiger Mittvierziger und schon dreimal wiederbelebt worden. An dem verdient die Gesellschaft garantiert nichts mehr, und es sieht nicht so aus, als sollte es bei dreimal bleiben. Mannis Organe sind mittlerweile vollständig durch Repliken ersetzt worden, allesamt Zuchtprodukte aus seinen eigenen Stammzellen, und alle diese neuen Organe sind inzwischen ebenfalls voller bösartiger Tumore. Man sagt, die meisten Mitglieder seiner Familie, Eltern, Großeltern etc. sind an Krebs gestorben, es scheint, dass der Krebs sich schon vor Generationen bis in die tiefsten Muster seines genetischen Codes hineingefressen hat. Und seit einigen Monaten bläht sich mitten in seinem Kopf ein aggressives Geschwulst auf und droht, sein Gehirn zu vernichten, sein Gehirn, das bereits dreimal den Hirntod erlitten hat und ergo bereits dreimal wiederhergestellt worden ist. Was kann man da noch tun? Es gäbe da wohl die »andere Möglichkeit«, darüber wurde auf dem Flur geredet, aber dafür reiche Mannis Vermögen wohl nicht. Deshalb will man an ihm nur ein paar Experimente machen, bis hin zur Herstellung eines komplett technischen Körpers; so etwas wie 'Legis' Bein fürs Ganze.
Du fragst dich, was sie mit 'andere Möglichkeit' meinen, behältst die Frage aber für dich, weil dir zuallererst du selbst einfällst, und du dir also etwas Illegales, ein Kapitalverbrechen darunter vorstellst. Dass man einen anderen Menschen dazu missbraucht, um in dessen Kopf wiedergeboren zu werden. Wie du in Leon.
Der Psychologe, der fünf Minuten zu spät kommt, ist ein Belgier mit dem Namen Jan (auch er hat einen Namens-Streifen auf dem weißen T-Shirt), ein ergrauter, langhaariger Ex- oder immer noch Hippie mit flusigem Pferdeschwanz und Nickelbrille, einer, der sich als »alter Knochen seines Fachs« vorstellt. Sein »Job« sei die gruppendynamische Verarbeitung unseres gemeinsamen Traumas: unser gemeinsames Wissen, gestorben zu sein - und sich nicht daran zu erinnern. Die fehlende Todeserfahrung mache es nicht leichter, das haben wir alle festgestellt, nicht nur Thomas in Leon, jeder aus der Gruppe ist erwacht mit dem Gefühl, nur kurz eingenickt zu sein, noch immer im Institut, im Schlaflabor, die Stimme des Hypnotiseurs noch im Ohr, und dann DAS: die Schlafkontrollgeräte plötzlich ersetzt durch Lebensrettungsmedizin, der Körper voller Schmerzen, gar Lähmungen, und noch bevor man aufgeklärt wird, zu ahnen: Ich bin tot!
Gewesen.
Was jeden von uns traumatisiert habe (wieso sagt Jan »uns«?), selbst die, die das nicht zum ersten Mal »machen«. (Machen?)
»Schön, dass Sie da seid!«, sagt Jan zur Begrüßung, und es klingt wie 'Schön, dass Ihr IMMER NOCH da seid!', oder auch 'Schön, dass Ihr WIEDER da seid!'
Jan macht das zweimal pro Woche, die meisten von uns sind etliche Wochen hier, er braucht also ein Programm, kann nicht jede Stunde dasselbe machen, zugleich muss so ein Programm wie eine Endlosschleife funktionieren, denn wann wer das erste oder letzte Mal dabei ist, ist reiner Zufall, insofern muss also jede Stunde für sich funktionieren, immer etwas Besonderes sein und zugleich so tun, als würde sie an die letzte Stunde anknüpfen.
»Wir hatten letzten Mal die Freude angeschaut«, fährt er fort, »Freude, zu leben, diesen Gefühl von 'Hurra, ich lebe noch!' oder 'Hurra, ich habe überlebt!', und mit diese Worten möchte ich unsere neue Mitglied begrüßen ...«, Jan schaut dich an, auch das noch, »das ist Lu... Leon, hallo Leon ...«, er nennt mich nicht 'Lunge', er nicht.
Du hebst die Hand, aber nur halb hoch, nickst, sagst nichts.
»Leon, schön, dass du da bist, wir freuen, dass du lebst!«, sagt Jan, »und wenn du uns dein Geschichte erzählen willst, dann gib uns ein Zeichen, wir hören gerne zu, und wenn du nicht möchtest, ist genauso gut, du musst nichts sagen, einfach dabei sein, zuhören, erleben, was die Gruppe erlebt, ganz wie du möchtest ...«
Du nickst noch einmal und bringst keinen Ton raus und denkst, so schüchtern bin ich nicht einmal als Thomas gewesen, was ist nur mit mir? Wie ein verstockter Pubertierender verhalte ich mich und weiß nicht wieso?
Jans Augen verlassen dich und er erzählt mit flämischem Akzent vom Universum, von Verbindung, vom Atmen. Und dass die Wiedergeburt ein Geschenk sei usw., Franka hätte das gefallen. Dann möchte er zum heutigen Thema kommen, unterbricht sich selbst, schaut sich um, als hätte er einen Teil seiner therapeutischen Choreografie vergessen, lächelt, »anyone else, bevor es losgeht? Jemand, der etwas erzählen möchte
von sich?«
Gruppentypisches Gruppenschweigen. Nur eine kurz- und dunkelhaarige, blasse, etwas pausbäckige, kleine Frau, ungefähr dir gegenüber, die wackelt auf ihren Pobackenjeans, schiebt schließlich ihre Hände darunter, ihr Gesicht macht Anstalten, als wolle es sprechen, sie öffnet sogar den Mund, dir fallen ihre Augen auf, die dunkel und feucht sind, aber auf eine Art feucht, als wären sie das immer, wie ein überaktiver Tränendrüsenaktivismus, das macht sie zwangsläufig zu einer emotionalen, entweder leidenden oder aber mitleidenden Person. Unterstützt wird das von ihren Augenbrauen, die eher zwei Punkte sind als zwei Striche, und die sie auf eine fast hündische Art zur Stirnmitte hin hochziehen kann. Als sie hörbar Luft holt und wahrscheinlich wirklich etwas sagen möchte, hat sich Jan wieder dir zugewandt: »Und Leon, möchtest du von dir erzählen? Etwas von dir, muss nichts mit dein Unfall zu tun haben, etwas Persönliches, von dir, was du uns mitteilen magst?«
Die Frau gegenüber schließt ihren Mund wieder. Unterstützt wird ihr expressives Leiden durch ihren Namen: Auf dem Kleber über ihrer Brust (dunkelblauer Kapuzenpulli, Vliesstoff) steht: 'Pille'. Was immer damit gemeint sein mag?
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