Also zwinge ich mich zu glauben, gestorben zu sein. Nur nicht aufgefahren in den Himmel, sondern. Und wenn Obst auch jetzt nach Scheiße riecht und ich mich ab und zu übergeben muss wie eine Schwangere, auch wenn ich vor dem Spiegel die Gesichtsmimik eines Fremden einstudiere, anhand von auf dem Rechner gefunden Fotos und Kurzfilmen, auch wenn ich mich zwingen muss, Spielstatistiken meines Fußballvereins auswendig zu lernen, oder mich dafür zu interessieren versuche, auf welchem Platz man die Saison beendet hat, oder ich herausfinden muss, wie diese schreckliche Musik klingt, die The Dorf spielt, die Leon in The Dorf spielt, und auch wenn Raumschiff Thomas nur aus der Not heraus die Sensoren auf diesen Planeten namens Leon ausrichtet, auch wenn, auch wenn, auch wenn, so werde ich doch letztlich gar keine andere Wahl haben, als mir dieses Planeten Ökologie anzueignen, um ihn irgendwann wirklich und wahrhaftig und für immer zu besiedeln. Weil nur noch Planet Leon die Welt ist. Die einzige Welt, die ganze Erde, ich kann nur zurück durch ihn. Weil, jawohl, weil mein Heimatplanet Thomas Vanderra vernichtet ist. Weil es keine Rückkehr gibt. Thomas Vanderra ist tot. So oder so.
Ein paar Mal besucht dich Pranzke, dein Werkstattmeister und seit dem Unfall der heimliche Chef in etwas, das also meine eigene Firma ist. Pranzke ist mit Sylvies Hilfe über sich selbst hinausgewachsen, und weil wir einen guten Namen haben, haben wir Stammkunden und werden weitergereicht, man bucht uns für Sanierungen von alten Häusern, da, wo es um Gebeiztes und Gedrechseltes geht, Treppenhäuser, Säulen oder verzierte Kassettentüren, und wir haben da noch einen, der das mit der Farbe gut kann. Ach ja, und Möbel machen wir. Antike oder solche, die es werden wollen - schleifen, beizen, Holzwürmer jagen. Pranzke, der Josef heißt und über 60 ist, mit langen Haaren, Pferdeschwanz, schwarz oder gefärbt, garantiert gefärbt, auch die Gesichtsbräune ist nicht echt, aber wer ist schon echt hier?, und es arbeiten noch mehr Leute für dich. Zum Beispiel einer, den Derrick nennt (der heißt doch nicht wirklich so, oder?), und außerdem ist da ein Auszubildender, für Pranzke einfach nur 'der Stift'. Pranzke fragt Dinge, die ich nicht beantworten kann. Stattdessen möchte ich mich - je mehr er ins Detail geht - unter das Bett verkriechen, aber noch einen Zusammenbruch würde ich nicht überleben (na ja). Und ich komme ja rein ins Thema, irgendwie. Architekt, Zimmerer, ist fast dasselbe, stell dir vor, ich müsste nun Elektriker sein. Oder so was.
Oder Arzt!
Helfen soll beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre die Therapiegruppe. Ein verschworener Haufen Gleichgesinnter (wirklich?): zusammengeflickte Körper aus einem Gruselkabinett, Freaks unterschiedlichster Couleurs, die nur eins gemeinsam haben: Sie sind von den Toten auferstanden. Vom Tod in ein künstliches Koma überführt, im Koma von den tödlichen Störungen wie Verletzungen oder Organausfällen geheilt, ggf. ersatzweise mit Spenderorganen, künstlichen Organen und / oder Prothesen ausgestattet, und dann das Gehirn mittels Backup restrukturiert. Und anschließend die ganze Person wiedererweckt.
Während ihr auf den Therapeuten wartet, fragt einer, wer noch Organe spendet, wenn er nicht mehr sterben muss? Tatsächlich werden kaum noch Organe gespendet, so die Antwort, vieles ist mittlerweile mit Eigen-DNA nachzüchtbar, du aber denkst an Dritte-Welt-Organhandel - und einer entwirft das Bild eines aus persönlichen Stammzellen hergestellten Ersatzkörpers: eine persönliche Replik, die in einer Garage (wahlweise Kellerraum oder 'Labor') aufgebahrt liegend auf seine Verwertung bzw. Verwendung wartet. Niemand unter euch Wartenden kennt allerdings den diesbezüglich tatsächlichen Stand der Wissenschaft, und allen medizinischen Fortschritten zum Trotz sind diese neuen Lebensabschnittsfreunde von Thomas alias Leon augenscheinliche Zombies. So meine Wahrnehmung und so gewiss auch deren Wahrnehmung von meinem Leonkörper. Irgendwer hat auf ein Pappschild 'Praxis Dr. Frankenstein' geschrieben und an die Tür zum Gruppenraum gehängt, Gelächter, während wir hineingehen, und das wie im Hals steckenbleibende Wissen, wie nah man 'Dr. Frankenstein' tatsächlich ist.
Diesseits eines den langen Raum teilenden weinroten Theatervorhangs, hier, wo therapiert wird, deutet jedoch nichts darauf hin. Holzstühle sind mit bunten Sitzkissen zu einem Kreis arrangiert, auf einem ebenfalls hölzernen Hochregal liegen zusammengerollte Gymnastikmatten und Decken und an den hellgelben, dezent grün changierten Wänden hängt nur Schönes: elektronenmikroskopische Fotografien vom Allerkleinsten und hochauflösende Computergrafiken des Größten, Strukturen und Farben biologischen Ursprungs, Bilder der Welt in ihrer Urzeitgenese sowie des gesamten Universums total. Und auf einem Sideboard stehen frische Blumen aus dem Park. Die hohen Fenster sind nach Süden hin ausgerichtet, aber die automatischen Außenjalousien lassen gerade so viel Sonne hinein, dass das Licht niemals blendet, und auch an trüben Tagen immerzu warm erscheint.
Doch statt euch in Erwartung des Therapeuten hinzusetzen und die Atmosphäre auf euch wirken zu lassen, erforscht ihr the dark side of life. Du fragst dich, ob das eigentlich gewollt ist, dass Ihr, die Therapiegruppe, euch vor Beginn der Stunde mit der Faszination des Grauens hinter diesen Vorhang begebt, um zu staunen wie die Kinder:
Denn in dem verhüllten Teil des Raums, der entweder mal ein medizinischer Schulungsraum war oder schon immer eine zu groß geratene Abstell- bzw. Gerümpelkammer ausgedienter Anschauungsmaterialien, oder auch beides, befinden sich die Auswürfe der letzten hundert Jahre Thanatologie, der Wissenschaft vom Tod, Artefakte, die nichts mit moderner Palliativmedizin zu tun haben. Sich wiederfinden zwischen zusammengeschobenen Vitrinen mit Präparaten menschlicher Organe und Knochen, an den Wänden hängen Glasrahmen mit plastinierten Körperschnitten, Wände, die hier, jenseits der Vorhanggrenze, eines Neuanstrichs noch harren. Mit den Fingern berührt ihr zaghaft die sargähnlichen Kisten, in denen verstaubte, unvollständige Skelette und mehrere, teils beschädigte Teil- und Ganzkörperplastinate lagern. Staub liegt unregelmäßig flockig auf den Exponaten, Fingerabdrücke und Wischspuren sind ein Indiz dafür, dass der Vorhang zwar die Arbeitsgrenze der Reinigungskolonne ist, hier aber regelmäßig Leute wie ihr herkommen, die keinen Staub zur Ruhe kommen lassen. Allein die Fenster, deren Lichteinfall auch hier von den automatischen Außenjalousien gesteuert wird, übermalen den theatralen Grusel mit versöhnlicher Distanz, mit einer Atmosphäre, und einer sagt: »Die haben's hinter sich.« Ob das Absicht ist, Therapie und Tod so nah beieinander, Letzterer nur durch einen dunklen Vorhang vom Leben getrennt?
Man hat sich bereits bekannt gemacht, dennoch reißen sich alle Teilnehmer routiniert ein Stück Kreppkleber von einer Rolle, die für diesen Zweck auf dem Tisch liegt, und schreiben mit einem dicken Faserstift ihren Namen auf ihren Streifen, den sie sich dann auf die Brust, sprich Sweatshirt, Trainingsjacke oder Pullover kleben. Du bist der Neuste hier und musst dich noch daran gewöhnen, dass die Namen nicht die richtigen sind, sondern man es sich zum Sport gemacht hat, möglichst originelle Nicknames füreinander zu erfinden. Originell im Sinne von makaber, wenn nicht nekrophil, die Frau, die sich neben dich setzt, als ihr eure Runde durch das Gruselkabinett beendet habt (eine obligatorische Runde, wie du heraushörst, ein Ritual, zu jeder Gruppenstunde immer wieder neu, was dich vermuten lässt, dass das therapeutisch gewollt sein muss), nennt sich zum Beispiel 'Legi', »englisch für 'Bein'«, und fügt erläuternd hinzu: »Motorradunfall, offene Beinschlagader, verblutet ...« Da ihr Originalbein bei dem Sturz bis zur Unkenntlichkeit bzw. irreparabel verstümmelt wurde, trägt sie eine multisensorische Prothese (sagt man 'trägt' zu einer zu eigen gemachten Extremität?), und zwar offen zur Schau: Ihr Minirock verdeckt kaum die Nahtstelle zwischen Haut und Hautfarben bzw. zwischen Stumpf und Schale, und das künstliche Bein ist dank Silikon oder Gummiwachs sexyer als das echte daneben. Der Rest an ihr scheint einigermaßen unversehrt, ein paar Narben wurden durch plastische Chirurgie perfekt kaschiert. Auf den Beginn der Stunde wartend erwähnt sie noch ihre neue Augenbraue, »komplett künstlich!«, nicht ohne Stolz, du solltest »mal fühlen«, wobei sie es offen lässt, ob sie Bein oder Braue meint, aber du siehst sie nicht einmal an. Was unhöflich ist. Sie legt ihre eigene Hand auf den elastomeren Oberschenkel und sagt: »Ich kann meine Finger spüren ...«, und du starrst auf das falsche Fleisch.
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