Die Kollegin schaute ratlos zu ihr auf und machte keine Anstalten, sich zu rühren.
«Ich gehe schon einmal vor.» Christine eilte aus dem Lokal, und es ärgerte sie, wie hektisch und überstürzt sie sich dabei bewegte, doch sie konnte es nicht ändern. Sie spürte Erleichterung, als sie den Tisch des Polizisten hinter sich gelassen hatte. Aber sie wusste, dass er sie beobachtete. Also gut, die Straßenseite wechseln und auf Tatjana warten, die hoffentlich endlich begriffen hatte, dass es sich bei dem jungen Mann nicht um einen Bekannten von Christine handelte, mit dem sie geflirtet hatte. Christine stieß sich mit der Spitze ihrer flachen Schuhe vom Bordstein ab und übersah ein heranrasendes Motorrad. Stolpernd und sich gerade noch abfangend, rettete sie sich auf den Gehsteig zurück.
Tatjana tauchte atemlos und mit entsetzter Miene neben ihr auf. «Du kannst doch nicht einfach so über die Straße laufen!» Der Kripobeamte hatte sich von seinem Platz erhoben und stand wie zum Sprung bereit hinter den Grünpflanzen des Lokals.
Zum Glück maß Tatjana der Sache keine weitere Bedeutung bei. Sie hakte sich fürsorglich bei Christine ein und murmelte: «Wir sind alle etwas durch den Wind» — ein Satz, den sie oft gebrauchte.
Freitagnachmittag war Redaktionskonferenz. Sie fand wie immer in einem kahlen Raum mit Holzparkett und weißen Wanden statt. Es gab keinen Tisch, sondern nur Metallstühle mit schwarzer Bespannung. Verantwortlich für diese Einrichtung war irgendeine arbeitspsychologische Theorie, an die Christine sich nur noch dunkel erinnerte.
Diese Nachmittagsgespräche sollten dem Austausch von Meinungen und Eindrücken zur jeweils letzten Ausgabe der Zeitschrift dienen. Chefredakteurin Gesine Myersberger war zehn Jahre älter als Christine, eine schlanke, hochgewachsene Frau mit schmalem Gesicht und schwarzen Haaren, die in klassischem Schnitt bis auf Kinnhöhe fielen. Sie hielt genau wie Christine und die anderen Kollegen die neueste Ausgabe von Convention in den Händen. Man unterhielt sich sachlich über die Ausstrahlung des Models auf der Titelseite und ob das Mädchen zum Selbstverständnis des Blattes passte.
Einige besonders Eifrige — die Redaktion bestand etwa zu einem Drittel aus Männern und zu zwei Dritteln aus Frauen — blätterten bereits auf die folgenden Seiten, auf denen sie sich Anmerkungen gemacht hatten. Im Lauf der Diskussion kreideten sie Kollegen Verständnisprobleme an, wiesen auf offene Fragen oder zweifelhafte Aussagen hin. Den kritisierten Autoren merkte man an, wie hin- und hergerissen sie sich fühlten. Einerseits wollten sie sich gegen Anwürfe verteidigen, andererseits sich aber offen für Kritik zeigen. Das Ergebnis waren nicht selten ein unnatürlicher Gesichtsausdruck und das angestrengte Bemühen, nicht zu laut zu sprechen.
Heute richtete sich die Aufmerksamkeit mal wieder auf Inga Krone. Sie verantwortete eine kleine Rubrik namens law & order, war Mitte dreißig und hatte ein rundes, weiches Gesicht, dem sie durch eine eckige Designerbrille mehr Kontur zu geben versuchte. Sie liebte die Juristerei und die penible Textrecherche. Immer wieder warf man ihr vor, ihre Themenauswahl und Schreibweise seien zu akademisch. Heute lautete der Vorwurf, sie habe in einem Artikel über Mietrecht ganz die Perspektive des Vermieters eingenommen. «Aber das Urteil, auf das ich mich bezog — da ging es nun mal um eine unzulässige Mietminderung. Der Vermieter hatte recht!»
Die Textchefin von Convention sah genervt zur Decke. Christine schlug die Arme über der Brust zusammen, weil sie ahnte, was jetzt kommen würde.
«Unsere Leserinnen sind aber meistens keine Vermieterinnen», sagte die Textchefin in betont harmlosem Tonfall. «Wohl besitzen sie Immobilien, doch bewohnen sie diese mit ihren Familien in der Regel selbst. Außerdem handelt es sich in dem von dir geschilderten Fall um einen äußerst unsympathischen Vermieter, auch, wenn er vor Gericht recht bekam.»
Es war zu spüren, wie die Kollegen im Geiste nickten. Chefredakteurin Gesine Myersberger lehnte sich mit mildem Lächeln zurück. Sie war sichtlich zufrieden mit der Diskussion, brauchte sich nicht einzumischen.
Christine konnte ein panisches Glitzern in Ingas Augen erkennen. Gleich würde sie mit wilden Gesten eine sinnlose Verteidigungsrede halten. Schon nach wenigen Minuten würde man sie zum ersten Mal unterbrechen, und zum Schluss würde sie den Konferenzraum mit dem Gesichtsausdruck einer Geschlagenen verlassen. Christine schauderte bei der Vorstellung.
«Also, ich finde es gut, wenn wir über den Tellerrand der Durchschnittsleserin blicken.» Die Kollegen sahen überrascht zu Christine herüber, die das Wort ergriffen hatte. «Wenn wir uns nur Klischees aus den Erhebungen der Marktforschung zusammenzimmern, werden wir von den Leserinnen nicht mehr ernst genommen. Viele von ihnen werden in den kommenden Jahren Erbschaften machen. Und auch wenn sie das nicht zugeben, machen sie sich jetzt schon Gedanken über Immobilien, die sie dann besitzen und zum Teil auch vermieten werden. Warum sollten sie nicht jetzt schon jeden Artikel zum Thema mit Interesse lesen?»
Filmkritiker Helge Werbner, ein Lockenkopf, der stets zu lächeln schien, aber gerne bösartige Sprüche von sich gab, nahm seine Brille ab und öffnete den Mund. Doch Christine war noch nicht fertig. «Wir sitzen hier wie in einem Raumschiff, schöpfen aus vorgekautem Material, beschreiben, was andere bereits interpretiert oder zur Mode erklärt haben. Wir sollten aber selbst Entdeckungen für die Leser machen.»
Schlagartig hatten alle Ingas Text vergessen. Die Arbeit der Redaktion in Frage stellen und dann auch noch andeuten, man wüsste, wie es besser geht — das war gefährlich. Gesine Myersberger reagierte wie erwartet. «Und wie stellst du dir das im Hinblick auf deine persönliche Arbeit vor, Christine?»
«Ich brauche mehr Zeit für Recherche. Ich kann Speisen oder Weine nicht in ein paar In-Lokalen kennenlernen. Ich muss öfter und länger die Regionen und Anbaugebiete bereisen. Du weißt, dass ein guter Freund von mir gestorben ist, ein Kenner der Mosel. Ich habe das Gebiet vernachlässigt, und zu einer gemeinsamen Reise dorthin ist es nicht mehr gekommen. Im Glauben, dass auch die Leser es vernachlässigen, habe ich sie mehr über Neuseeland oder Sizilien informiert als über die Anbaugebiete vor der eigenen Haustür.»
«Na ja, haha.» Filmkritiker Werbner hatte eine Hand in den Nacken gestemmt. «Moselwein — erinnere ich früher von Verwandtenbesuchen. Haben damals sogar meine Eltern die Nase drüber gerümpft und mit Wasser verdünnt, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Dies süße, klebrige Zeug.»
Christine klatschte in die Hände. «Genau das ist es! So denken viele. Wenn wir uns mit dem Thema befassen, erfahren sie, wie viel sich dort verändert hat und dass die alten Vorurteile nicht mehr stimmen.»
Gesine Myersbergers Augen wirkten eine Spur samtener als sonst. «Ja, warum schreibst du nicht einen schönen Text darüber, du musst doch nicht um Erlaubnis fragen.»
«Natürlich habe ich schon über die Mosel geschrieben. Aber ich weiß zu wenig aus erster Hand.» Christine holte Luft. Jetzt musste sie sagen, was sie sich lange vorgenommen hatte. «Ich stelle mir vor, dass ich für ein paar Wochen hinunterfahre und in einer Serie über meine Erlebnisse berichte. lch kann Weine und Rezepte empfehlen, Interviews machen...
Die Leserinnen sind für einen längeren Zeitraum wie live dabei, erleben die Region als Fortsetzungsroman.»
«Oh.» Gesine Myersberger machte mit schneller Hand Notizen. Es kam selten vor, dass ihre Mitarbeiter derart weitreichende Wünsche äußerten. «Ein interessanter Gedanke, Christine. Wir sprechen noch darüber.»
Diese Worte ihrer Chefin verfolgten Christine den ganzen Tag: Wir sprechen noch darüber. Es machte ihr noch einmal klar, wie viel ihr daran lag, etwas zu ändern. Es war ein tiefer Wunsch von ihr, den sie nicht der Meinung einer Vorgesetzten unterordnen wollte.
Читать дальше