Offiziell vermutete die Polizei, das Verbrechen habe mit Drogenkriminalität zu tun. Ein seltsamer Verdacht. Nichts in seinem Laden ließ auf einen Raub schließen. Die offene Tür deutete darauf hin, dass er seinen Mörder selbst hereingelassen hatte und womöglich sogar im Begriff gewesen war, ihm Wein einzuschenken. Jedenfalls standen zwei leere Gläser auf dem Tisch, die er natürlich auch für Christine und Erik dort postiert haben konnte ...
Man hatte sie nach der Tat stundenlang verhört, und ein junger Beamter namens Bandow hatte penetrant Fragen nach ihrem privaten und geschäftlichen Verhältnis gestellt. Es war ihm schwer zu vermitteln gewesen, dass Erik und sie gemeinsam mit dem Weinhändler zum Laden aufgebrochen, aber erst kurz nach seiner Ermordung dort eingetroffen waren. Der Beamte räsonierte über die Möglichkeit eines «Streits unter Alkoholeinfluss» — obwohl ihre Promillewerte nicht der Rede wert gewesen waren. Ganz offensichtlich waren sie die wichtigsten Verdächtigen. Diente die Informationspolitik der Polizei also nur dazu, sie beide in Sicherheit zu wiegen, damit sie früher oder später einen Fehler begingen? Wurde ihr Telefon abgehört? In diesem Fall sollten sie so schnell wie möglich miteinander telefonieren. Allein der Klang ihrer Stimmen, so glaubte Christine, würde ihre Unschuld beweisen.
Sie war froh, dass sich kein Kollege ungewöhnlich verhalten oder gar Beileid gewünscht hatte. Womöglich wusste nur Chefredakteurin Gesine Myersberger Näheres über Christines Verstrickung in den Fall. Sie hatte, wie sie Christine berichtete, der Kripo Fragen über ihre Mitarbeiterin beantworten müssen.
Auf Christines Computerbildschirm flackerte ein vor kurzem angefangener Artikel über ihre Lieblingsregion Bordeaux und die Gepflogenheit dortiger Winzer, neben einem teuren Hauptwein einen zweiten, weniger anspruchsvollen und preiswerteren zu produzieren. Lohnte sich der Kauf? Oder handelte es sich nur um einen faden Abklatsch, der sich seinen Namen viel zu hoch bezahlen ließ? Ein interessantes Thema, aber Christines Fingerkuppen hingen unbeweglich über den kleinen schwarzen Quadraten ihrer Tastatur. Jeder Satz, der ihr einfiel, erschien ihr albern und ungelenk.
Christine trank tagsüber nie Alkohol, aber wenn jetzt ein gefülltes Glas neben ihr gestanden hätte, hätte sie vielleicht zugegriffen. Es gab Mitarbeiter im Verlag, deren Alkoholkonsum während der Arbeitszeit ein offenes Geheimnis war. Man tuschelte darüber, sonst nichts — die Betreffenden leisteten normale Arbeit.
Christine löschte ihre Sätze und starrte auf das jetzt völlig blanke Textfeld. In drei Jahren könnte sie immer noch hier sitzen, oder in zehn, wenn sie vorher nicht die Kündigung erhielt. Diesen Job hatte sie von Anfang an lediglich als Zwischenstation gesehen, um in finanzieller Sicherheit Pläne zu schmieden. Doch es war nichts geschehen. Sie arbeitete Tag für Tag, Woche für Woche und wusste, wie glücklich sie sich schätzen konnte, nicht zu der großen Zahl arbeitsloser oder unwürdig bezahlter Journalisten zu gehören. Aber wann kümmerte sie sich endlich darum, ihre Tätigkeit so weiterzuentwickeln, wie es ihr vorschwebte?
Sie verlor endgültig die Lust an ihrem Artikel und versuchte ein weiteres Mal, Erik zu erreichen. Wieder erfolglos. Seit dem Mordtag hatte sie nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen. Sie wandte sich ihrer Post zu, die sie gerade deshalb noch nicht geöffnet hatte, um sich auf das Schreiben zu konzentrieren. Als Redakteurin für Reisen, Essen und Trinken bekam Christine viele Briefe. Fast täglich befanden sich Einladungen darunter: eine dreitägige Journalistenreise durchs Loire-Tal mit Verkostungen unter freiem Weinbergshimmel und Unterkunft in romantischen Schlössern, Bordeaux Grand Cru der 8oer Jahre — außergewöhnliche Verkostung des Weinhandelshauses soundso im Berliner 5-Sterne-Hotel, Gourmet-Entdeckungsreise auf die Liparischen Inseln ... Zwischen vielen Hochglanzbroschüren fiel ein kleiner roter Umschlag auf, der an «Christine Sowell — persönlich» adressiert war. Darin steckte ein ebenfalls rotes, mit gedruckten Lettern beschriebenes Kärtchen: Vorsicht! Jedes weitere Wort ist gefährlich, und wo Beweise fehlen, werden sie gemacht. Ein Freund.
Hitze schoss Christine ins Gesicht. Was war damit gemeint? Jedes weitere Wort über den Mord an Bert Gernsheim? Beweise werden gemacht. Von diesem Satz ging eine Bedrohung wie von einer Waffe aus. Stammte die Warnung von jemandem, der mehr wusste als sie und ihr helfen wollte? Oder handelte es sich vielleicht um einen Trick der Polizei, um sie aus der Reserve zu locken?
Vor der Glastür zu Christines Büro tauchte ihre Kollegin Tatjana Neiders auf und prüfte mit lächelnden Augen, ob sie stören durfte. Mit dumpfem Erschrecken fiel Christine die plausibelste Erklärung ein: Die Karte stammte von dem Menschen, der Bert ermordet hatte.
«Komm doch rein.» In der Hoffnung, ihre Besorgnis überdecken zu können, verzog Christine ihr Gesicht zu einem übertrieben breiten Lächeln. In der Tat schien Tatjana nichts zu bemerken. Ihre vollen Lippen waren dick mit Lippenstift bemalt, ihre Wangen trugen überdeutlich Rouge, aber dies ließ sie keineswegs unnatürlich aussehen, sondern passte zu ihren langen rotblonden Haaren, ihrer fröhlichen Art und dem oft vernehmbaren Lachen. Sie war wie geschaffen für das Ressort love & emotion — oder sah zumindest so aus, als hätte sie sich dafür verkleidet. Tatjana Neiders bekam die meiste Leserpost.
Christine überlegte, ob sie erzählen sollte, was sie erlebt hatte. Sie entschied sich dagegen. Tatjana kannte Bert Gernsheim nicht, sie würde aber mit einem Schwall erschrockener und mitfühlender Wendungen reagieren, die Christine sich ersparen wollte.
Tatjana zwinkerte ihr auf vielsagende Weise zu, was sie immer tat, wenn sie Tipps für ihre Texte brauchte. Meist half Christine ihr mit kulinarischen Details aus, Tatjana schätzte inzwischen aber auch ihren Rat zu anderen Fragen. Es war zum Ritual geworden, Szenarien für Artikel gemeinsam durchzuspielen, und Tatjana legte wie so oft ohne Einleitung los: «Stell dir vor, sie will es heute wirklich wissen, und ihr schwebt eine perfekte Inszenierung hei sich zu Hause vor, Menü und so. Nun hat sie es mit einem dieser IT-Fachkräfte zu tun, deren Hobby na du weißt schon ist und die noch am Wein rumschnuppern, wenn ich schon das halbe Glas geleert habe. Was schenkt sie ihm ein, und was soll sie dazu kochen?»
Tatjana kam näher. Sie liebte Körperkontakt und Gespräche, bei denen sich fast die Nasenspitzen berührten. Christine schob das rote Kärtchen mit dem Zeigefinger unter einen Prospektstapel. «Erst mal die einfache Lösung: Sie bereitet ein Gericht zu, das gleichermaßen eiweißreich und animierend ist: Meeresfrüchte, Lachs, Seehecht oder Geflügel. Dazu passt Chardonnay, aber es kann sein, dass der Typ Chardonnay hasst. Vor allem, wenn es sich um eines der überaromatisierten Gewächse handelt, mit denen die Regale vollstehen. Nun kann sie zu einem französischen Burgunder oder Chablis greifen. Diese Weine werden auch aus der Chardonnay-Traube gemacht, und mit den besten kann man nichts falsch machen. Sie kosten allerdings viel, und bei den preiswerten ist das Risiko groß, eine Enttäuschung zu erleben. Deine Heldin stünde wie eine Doofe da, die sich von großen Namen auf dem Etikett blenden lässt.»
Tatjana hörte ihr mit aufgerissenen Augen zu und griff nach einer alten Zeitung auf Christines Schreibtisch, um sich Notizen zu machen.
«Leichter ist es, einen frischen Muscadet oder einen nicht zu säurehaltigen Sauvignon Blanc von der Loire zu servieren. Oder sie lässt es richtig krachen.»
«Aha.»
«Wenn sie ihn richtig aufmischen, verblüffen und auch physisch in Topform bringen will, nimmt sie einen restsüßen Wein von der Mosel und kocht dazu etwas Asiatisches mit Chili.»
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