Der Blick fällt auf seine Schuhspitzen, die wie immer frisch poliert glänzen und mit dem scheinbar neu verlegten Linoleumbelag der riesigen Wartehalle um die Wette spiegeln. Ein seltsamer Geruch von Bohnerwachs, Schweiß und Misserfolg schwebt über den Wartenden, die wie angewurzelt auf den an der Wand befestigten Klappstühlen verharren. Eine überwältigende Stimmung der Resignation schnürt ihm fast die Kehle zu, als sein Blick die LED-Anzeige der Nummernanlage streift.
»763 bitte in Raum 16!«, fordert eine blechern klingende Stimme eindringlich und bestimmend auf ...
Das Buch
Georg von Lakin – Romanfigur und Hauptdarsteller dieser szenisch aufbereiteten Persiflage – lässt nichts anbrennen. Inmitten der wohl größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg kämpft er mit allen Mitteln und unlauteren Praktiken um den ersten Platz auf der Karriereleiter. Halsbrecherische Finanztransaktionen begleiten seinen Weg in ein politisch herausragendes Amt ebenso wie Betrügereien, Veruntreuungen, undurchsichtige Beziehungsgeflechte und illegale Machenschaften. Lakin setzt aufs Ganze und verliert doch alles: Macht, Ansehen, Geld und Ruhm. Der steinige Weg zurück in ein Leben, das ein wenig Anerkennung, Ansehen und Status zurückbringen soll, gestaltet sich abenteuerlich und äußerst schwierig. Kann ihm der Kraftakt gelingen?
Marlen Albertini kratzt mit ihrem neuen Roman an den gesellschaftlichen Fassaden und bietet vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise seit 2008 szenische Einblick in die Welt der Zocker, Blender, Verlierer und Gescheiterten ...
Die Autorin
Marlen Albertini ist gelernte Journalistin und Publizistin und befasst sich schwerpunktmäßig mit den Themen Politik, Wirtschaft und Soziales sowie Bürger- und Menschenrechte. Seit 1994 arbeitet sie als freie Journalistin und Redakteurin für verschiedene Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Marlen Albertini
KURSVERLUST
Szenen einer Krise
SPREEZEITUNG Berlin
Herausgeber: SPREEZEITUNG, Berlin
www.spreezeitung.de
Dezember 2018
© Marlen Albertini - https://kursverlust.de
Druck: epubli || neopubli GmbH, Berlin
Lüneburger Lektorat || Klaus Schröder
Cover-Gestaltung: Steffen Pidun
Printed in Germany
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über: http://dnb.de/DE abrufbar.
»Vor dem Boom und nach dem Krach
herrscht große Stille.
Was sich dazwischen abspielt,
ist nur hysterischer Lärm ohne viel Verstand.«
(André Kostolany)
NUMMER 811, BITTE IN RAUM 21!
Der Blick fällt auf seine Schuhspitzen, die wie immer frisch poliert glänzen und mit dem scheinbar neu verlegten Linoleumbelag der riesigen Wartehalle um die Wette spiegeln. Ein seltsamer Geruch von Bohnerwachs, Schweiß und Misserfolg schwebt über den Wartenden, die wie angewurzelt auf den an der Wand befestigten Klappstühlen verharren. Eine überwältigende Stimmung der Resignation schnürt ihm fast die Kehle zu, als sein Blick die LED-Anzeige der Nummernanlage streift.
»763 bitte in Raum 16!«, fordert eine blechern klingende Stimme eindringlich und bestimmend auf. Sein Blick taxiert das Stückchen verstärktes Papier in seinen Händen. Es trägt die Nummer 811 und sieht aus wie eine billige Kinokarte. Langsam lockert er seinen steifen Krawattenknoten und hebt vorsichtig den Kopf, um sich ein genaueres Bild von seinem Umfeld zu verschaffen. Gegenüber redet sich gerade eine ungepflegt wirkende Blondine in Rage, während ihr Sitznachbar zur Linken wohl eingeschlafen ist. Ein Mann weiter rechts nestelt an einem Stapel Unterlagen herum, den er umklammert, als wäre er sein ganzer Besitz.
»Auch arbeitslos?«, raunzt es plötzlich neben ihm. Georg von Lakin dreht sich zur Seite und sieht in lauernde, leicht blutunterlaufene Augen. Klingt das etwa nach Schadenfreude? Grimmig und beinahe etwas zu hektisch wehrt er den aus seiner Sicht allzu neugierigen Angriff auf seine Person mit einem schroffen »NEIN!« ab und wendet sich wieder der schrillen Blondine zu. Mit ihrer viel zu großen Klappe scheint sie der puren Angst vor der Zukunft davonlaufen zu wollen, während sich alle anderen Gespräche in einem unverständlichen Gemurmel verlieren.
»811 bitte in Raum 21!« scheppert es nun energisch aus dem Lautsprecher über der LED-Anzeige. Als könne es der ungeduldig wartende Sachbearbeiter gar nicht abwarten, den nächsten Fall unter seine Fittiche zu bekommen, scheppert es gleich noch einmal: »811 bitte umgehend in Raum 21!« Hastig richtet Lakin seinen gelösten Krawattenknoten zurecht und klemmt den mitgebrachten Aktenordner unter den Arm. »Ferdinand Trompt, Fallmanager« steht in sauberen Lettern auf dem Schild an der Tür. Es hört sich irgendwie unausweichlich an.
»Herr Lakin?« Der abschätzende und unpersönliche Blick des Sachbearbeiters berührt ihn flüchtig, aber unangenehm. Eine kurze Geste weist ihm den Platz hinter dem aufgeräumten und blitzsauberen Schreibtisch.
»Von ...«, haucht der Angesprochene korrigierend, »von Lakin,« und nimmt den ihm zugewiesenen Platz ein. Unsicher wie ein Schuljunge und voller Unruhe reibt er seine Handflächen auf dem Stoff seiner Hose hin und her, als gäbe es Bedrohliches zu verhindern ...
AUFSTIEG MIT ALLEN MITTELN
»Beeil dich«, zischt Lydia von Lakin ihrem Mann zu. Planmäßig findet die Veranstaltung mit anschließender Podiumsdiskussion in einer guten Viertelstunde statt. Noch immer steht Georg vor dem mannshohen Spiegel im Flur der großen Villa. Schnell übt er noch große Gestik und äußert dazu eine Passage aus jener Rede, die später ganze Menschenmengen begeistern soll.
»Wie sehe ich aus?«, fragt er etwas unwirsch und nun schon zum dritten Mal. Ohne auch nur andeutungsweise auf die Frage einzugehen, zieht Lydia ihren Mann in Richtung Haustür und weiter zur Garage. Natürlich sieht er gut aus, wie stets. Exzellent gekleidet zeigt er sich in einem dezenten, modischen und sündhaft teuren Anzug und wirkt unwiderstehlich. Die Haare perfekt gestylt und mit vielleicht einem Hauch zu viel glänzendem Gel taff zurückgekämmt, schreitet Lakin wie das wandelnde Erfolgsmodell des 21. Jahrhunderts daher. Schwungvoll öffnet er die Beifahrertür der blitzblanken eleganten Luxuslimousine und atmet tief durch. Die eben noch stark empfundene Anspannung fällt langsam von ihm ab, und er lehnt sich in den feinen Ledersitzen bequem zurück. Geschickt angelt er sich eine der Markenzigarillos aus seinem eleganten Etui, ohne die er niemals das Haus verlassen würde. Lydia, die ihren Mann wie immer zu wichtigen Veranstaltungen chauffiert, rümpft die Nase. Nicht in 20 Ehejahren konnte sie sich an den beißenden Geruch dieser Nobeltschipetten gewöhnen. Resigniert nimmt sie zur Kenntnis, wie der penetrante Geruch langsam aber dominant die Luft im Fond durchdringt und sogar die Sicht verschleiert.
»Herr von Lakin, werden Sie noch heute mit Ihren Forderungen an die Öffentlichkeit gehen?«
»Ab wann sollen denn die Gesetze in Kraft treten ...?«
»Wie stellen Sie sich die Umsetzung dieser Politik vor?«
Lakin, der soeben seinen Wagen verlässt, wird von einer Traube Menschen erwartet, die sich vor dem Klaubrühler Hof formiert hat und nun ungeduldig Einlass begehrt. Die heimische Presse und auch große Sender bedrängen ihn mit Fragen und strecken ihm respektlos Mikrofone unter die Nase. Andere bringen sich mit gezückten Schreibutensilien direkt vor seiner Nase in Position und lauern wie eine Horde kläffender Kampfhunde.
»Wichtigtuerische Schreiberlinge ...«, denkt Lakin und schaut in ihre erwartungsvollen Gesichter, die lüstern auf Sensationsnachrichten lauern wie Drogenabhängige auf den ganz großen Kick.
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