An diesem Freitag herrscht Hochbetrieb in der Redaktion des Bad Schlirnauer Tageblatts. Die Nachrichten tickern durch das Faxgerät. So, als wollten sie es noch unbedingt in die Schlagzeilen schaffen, bevor der sonst so hektische Betrieb in Tiefschlaf verfällt. Mit der Samstagsausgabe endet im Pressehaus die Arbeitswoche. Der Sonntag ist heilig.
»Los, los, los ...«, treibt Randolf Schweigmann seine Leute an. »Das muss alles noch in die Ausgabe. Avanti, avanti!«
Schweigmann, seines Zeichens Chefredakteur des beliebten Blättchens mit einer einzigartigen Mischung aus Boulevard- und Skandal-Journaille, ist ein schwieriger Mensch. Warum, weiß niemand so genau. Es mag an seinem unverwüstlichen Traum liegen, einmal eine sensationelle Titelgeschichte aus dem Milieu der ganz großen Politik zu produzieren, was bisher nie Wirklichkeit wurde. Dass ihm das niemals gelang, ist kaum verwunderlich, denn Bad Schlirnau bietet nicht viel Bodensatz für die Story des Lebens. Schweigmann zieht es auch nicht großartig in die Ferne. Allein der Gedanke, über den Tellerrand und damit Bad Schlirnau hinauszuschauen, bereitet ihm geradezu körperliches Unbehagen.
So müssen die Mitarbeiter auch an diesem schwülen, regenverhangenen Tag eine gewisse Übellaunigkeit des Chefs in Kauf nehmen. Und sie hauen fleißig in die Tasten, gilt es doch, die dicke Samstagsausgabe zu füllen und die Webseite mit allerlei »Just for Fun«-Beiträgen anzufüttern. Am Wochenende wollen Leser keine Probleme. Sie gieren nach Jokes, Tipps und Unterhaltung. Kino- und Theaterprogramm, Filmkritiken und der eine oder andere Promi-Skandal zieren dann das Heimatblatt Bad Schlirnaus. Und die Auflage ist beträchtlich. Hektisch geht es zu, und in der Redaktion ist es brütend heiß. Wieder einmal fällt die inzwischen marode Klimaanlage aus. Doch die extrem tempolastige Arbeit kennt keine Gnade.
»Schneller, macht hin ...« ruft jemand ungeduldig vom Nachrichten-Desk, doch bald geht auch diese Stimme im allgemeinen Redaktionsgemurmel unter.
Gegen Mittag reißt der Himmel auf, und die Sonne lässt sich blicken. Auch Schweigmanns Gesichtszüge glätten sich und wirken etwas entspannter. Das hat seinen guten Grund: Der Chefredakteur wird am heutigen Presseball teilnehmen. Er darf sogar überregional berichten – inklusive Fotostrecke. Ein Leitartikel – seine Mitarbeiter sprechen hinter vorgehaltener Hand lieber vom Leidartikel – soll die ersten Seiten einiger großer Tagesblätter zieren. Das ist zwar immer noch nicht die ganz große Story, auf die der Chef vom Schlirnauer Tageblatt schon sein gesamtes Berufsleben wartet. Doch er fühlt sich ihr bereits sehr nahe. Wie nahe tatsächlich, kann Schweigmann zu diesem Zeitpunkt unmöglich ahnen.
Seit Wochen schon arbeitet Blomberg auf Hochtouren in Sachen Stadtrat von Lakin. Konzentriert kämpft er sich durch beträchtliche Aktenberge. Dazu hat er sich in seinem modern ausgestatteten Büro tief vergraben. Nur die Nasenspitze des neugierigen und sehr ehrgeizigen Mitarbeiters des Ministerpräsidenten lugt noch zwischen dem Wust an aufgetürmten Unterlagen hervor. Als äußerst strebsamer Mitarbeiter im Regierungsstab sieht sich der junge Büroleiter bereits weit oben auf den Sprossen der Karriereleiter. Als hinge sein Leben davon ab, mit welchen Erfolgsmeldungen er in Kürze überraschen und von seinen brillanten Befähigungen überzeugen kann, wirft er sich knietief in die Angelegenheit der möglichen Machenschaften des Schlirnauer Stadtrats.
Raum und Zeit scheinen sich aufzulösen, während er emsig die Akten wälzt und akribischen Online-Recherchen seine gesamte Aufmerksamkeit schenkt.
»Aha!« und »so, so ...«, murmelt er, nur durch ein gelegentliches »Ist ja nicht zu fassen!« ergänzt. Selten legt er eine kleine Zwangspause ein. Dann benötigt sein Erstaunen darüber, wessen er gewahr zu werden scheint, einen Moment der Muße. Zum einen, um sich wieder zu sammeln und zu beruhigen. Zum anderen aber, um das ihm bisher verwehrte Gefühl des Erfolgs auszukosten. Nichts und niemand können ihn jetzt noch von seinem eigentlichen Ziel abhalten. Das nämlich gipfelt in dem Bedürfnis, sich als absolut unentbehrlich zu erweisen. Der Fall Lakin bietet ihm dazu die einmalige Chance, da ist sich Blomberg sicher. So tippt er fleißig die just gewonnen Erkenntnisse in die eigens erstellte Datei Lakin.doc hinein. Gut fühlt es sich an, diese berauschende Emotion der Anerkennung, die er in seiner Fantasie schon hautnah spürt und eine wohlige Gänsehaut hinterlässt. Bald wird ihm eine solche Anerkennung auch in der Realität zuteil werden. Selbstverliebt und genüsslich balanciert Blomberg auf seinem persönlichen Ego-Trip, und die Brisanz seiner Erkenntnisse wird ihm noch klarer. Die hat es in der Tat in sich. Davon kann sich gerne auch Dr. Wilhelm Kaulmann überzeugen. Beschwingt betritt der dynamische Ministerpräsident in diesem Moment das Büro und überhäuft Blomberg sogleich mit einer Flut an Fragen.
»Wie stehen die Aktien im Fall Lakin?« Ungeduldig und arhythmisch trommelt der Ministerpräsident mit den Fingerspitzen auf Blombergs Schreibtisch herum, als könne er das, was er sich an Antworten wünscht, erzwingen. Zusätzlich malträtiert er seinen Mitarbeiter mit einem stechend-fragenden Blick, der inhaltsleere Worte unverzüglich mit einer Entlassung quittieren würde.
»Ich stecke noch mitten in der Recherche, Herr Ministerpräsident. Bisher aber steht fest: Lakin hat für drei Jahrzehnte große Teile der Infrastruktur Bad Schlirnaus an einen amerikanischen Investor verkauft. Und zwar die Kanalisation, das Schienennetz und das städtische Wasserwerk.«
Barsch unterbricht Kaulmann Blombergs Aufzählung und stellt in scharfem Ton eine Zwischenfrage. »Hat das Schlitzohr denn nicht noch weitere Projekte verhökert? Immerhin ist Stadtrat von Lakin keiner, der sich mit Halbheiten zufrieden gibt.« Kaulmanns Blick fällt erwartungsvoll Richtung Blomberg.
»Doch, doch! Er hat auch die Grundschule und das Gymnasium an die Amerikaner verkauft und dann zurückgeleast«, antwortet dieser hastig und freut sich insgeheim, endlich derart in den Fokus des bewunderten Chefs zu rücken.
»Gut, das haben viele Kommunen so gehandhabt«, stellt Kaulmann ernüchternd und zugleich beschwichtigend fest.
Blomberg glaubt, einen bedauernden Unterton zu vernehmen, als der Chef ergänzt, dass dies allein ja auch noch nicht strafbar sei. Wie voreilig Kaulmanns Feststellung in Hinblick auf Lakins Machenschaften im Gesamten ist, beweisen die nächsten Minuten. Das, was der ansonsten so langweilige und fade Büroleiter an weiteren Erkenntnissen in diesem Fall von sich gibt, gereicht zum Stoff, aus dem viele Jahre Knast gewoben sind.
Es ist Punkt 17 Uhr. Ferdinand Trompt packt seine Habseligkeiten in die alte Aktentasche, welche er seit Jahrzehnten seines Berufslebens mit sich herumschleppt. Eine abgenutzte Thermoskanne wandert ebenso in das gute alte Stück wie die leicht zerbeulte Butterbrotdose, in der es sich das achtlos zerknüllte Pergamentpapier gemütlich macht. Ein Blick auf seinen stets so penibel aufgeräumten Schreibtisch signalisiert Trompt, das Büro ordnungsgemäß zu verlassen. Noch vor wenigen Minuten saß ihm der bisher schwerste Fall seiner beruflichen Geschichte gegenüber. Dessen unverblümte Beichte veranlassten Trompt, an dieser Stelle einzuhalten und den schwierigen Kunden anderntags neu einzubestellen. Noch bis zur Tiefgarage und den sich anschließenden Fahrradkeller begleiten ihn die Gedanken zu diesem Fall. Das ist äußerst ungewöhnlich für Trompt, der Beruf und Privatleben strikt zu trennen vermag. Umständlich fummelt er an den Hosenklammern herum, bis sie endlich akkurat sitzen und ihm das sichere Gefühl vermitteln, nicht mit dem Stoff seiner guten Bürohose in die Speichen zu geraten. Anschließend klemmt er seine Aktentasche auf den Gepäckträger, schwingt sich auf das Rad und fährt Richtung Ausfahrt des Jobcenters.
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