Denn so, wie man im Verlangen nach bedeutungsschwangeren Bauwerken das Brandenburger Tor besonders gerne als Symbol der Teilung benutzte, war der Potsdamer Platz auf einmal mit Weltläufigkeit, Modernität und Urbanität in Verbindung gebracht worden, was rückblickend einen zuckersüßen Beigeschmack bekommt, schaut man sich das peinliche Ergebnis der Mühen einmal an, welches wir alle bedauern.
Den alten Wissenschaftler, von der Geschichte der letzten 64 Jahre ohnehin ziemlich mitgenommen, konnte erst einmal nichts mehr schrecken; er war nur völlig überrascht, da er natürlich nicht mit einer Mondlandschaft, sondern mit einem quirligen Piccadilly Circus gerechnet hatte. Er nahm die monströse Schuttwüste nach einigen Sekunden verdutzten Nicht-Wieder-Erkennens schließlich recht gelassen zur Kenntnis und schüttelte seinen breiten Schädel.
“Diese Stadt hat immer noch die Neigung, sich zu schnell und zu hastig verändern zu wollen. Das ist mir besonders aufgefallen, als ich den Vergleich zu London ziehen konnte, welches ja einem ähnlichen Prozess unterworfen war; London wuchs in einem noch rascheren Tempo, behielt seine Eigenarten aber stets bei und verwarf nicht seine gute alte Identität; Berlin hingegen musste immer in jeder Generation anders erscheinen, zu meiner Geburt provinziell und protestantisch; dreißig Jahre darauf eine echte Großstadt mit Elendsquartieren, Hinterhöfen und Tschingderassabumm, Sie verstehen, was ich meine. Und in meiner Zeit schließlich wild, grob und schnelllebig, viel Paris in den Straßen, New York in den Herzen und Moskau in den Köpfen.”
“Tja, vor ein paar Jahren gab’s hier ja noch die Mauer, und der Osten war eine Mischung aus altem Berliner Charme und Vorhof von Peking. Inzwischen wächst das ja ganz, ganz langsam wieder zusammen, aber geistig gesehen sind es immer noch zwei halbe Städte, und im Herzen zwei ganze.”
“Das war ein nettes Bonmot,“ grunzte der Professor. „Schade, dass meine Zeit mit diesem Spruch so wenig wird anfangen können. –Nun zu einem schwierigeren Punkt, den wir wie alles ebenfalls am besten im Gehen erörtern sollten. Wir müssen in kurzer Zeit, also nach unwissenschaftlicher Methode, die Frage beantworten, ob eine neue Errungenschaft, eine Technologie, die ganz offensichtlich ihrer Zeit so weit voraus ist, überhaupt zum Heile der Menschheit eingesetzt werden kann.”
“Ja, ich weiß, was Sie meinen. Es ist ein bisschen so, als hätten die Sumerer die Atombombe besessen.”
“Hä?” fuhr es Wittmann heraus, der normalerweise gepflegtere Rückfragen bevorzugte.
“Ach ja, das habe ich ja ganz vergessen. Der Zweite Weltkrieg wurde mit dem Abwurf zweier Atombomben beendet.”
“Hier in Berlin?”
“Nein, Deutschland hatte Glück, dass seine Kriegsführung zu schlecht war und schon vorher kapituliert hatte. Die USA haben die beiden Bomben über Japan abgeworfen; einige hunderttausend Tote und unheilbar Verstrahlte nur durch zwei Bomben; ein bodenloses Kriegsverbrechen.”
“Ach du mein Gott, ja, das hört sich so an. Aber da möchte ich doch hinzufügen, dass schon der Krieg selber im Grund ein Kriegsverbrechen ist! –Wohlan, man stelle sich vor, die Römer etwa hätten das Pulver besessen! Sie hätten den gesamten Erdball überrannt, womit die römische Kultur, die wir heute gerne in höchsten Tönen preisen, hundert Jahre später eine zerfallende Ruine gewesen wäre; ein allzu mächtiges, korruptes, gewaltsüchtiges und dekadentes Weltreich, in welchem man sich am besten jeden Tag besaufen wollte. Alle großen Erfindungen waren Teil eines evolutionären Prozesses; vielleicht ist meine zu früh, zu weit meiner Zeit voraus, und ich bin nur ein alternder, ehrgeiziger Wissenschaftler, der allein und weltvergessen an einem Ding bastelt, an das außer ihm niemand glaubt. Das macht diese neuartige Maschine zwar großartiger und überraschender, aber vielleicht auch eine Idee gefährlicher. Wir haben nicht sehr viel Zeit; es muss uns eine Idee kommen, wie wir weiter vorangehen. Ich will die Maschine retten; sie ist mein Kind. –Aber nicht um jeden Preis.”
“Noch ist ja nicht aller Tage Abend. Vielleicht kehren Sie in zehn Tagen vollkommen unbehelligt in Ihre Zeit zurück und... wer weiß, was Sie dann empfinden?”
“Dann müsste ich mein Werk zerstören,” meinte der Professor, der immer nachdenklicher wurde, im Unterschied zu Christian, der sich recht behaglich fühlte und erwiderte: “Ich meine, dass unter künstlich erhöhtem Druck keine guten Entscheidungen getroffen werden. Manchmal lehnt man sich besser mit einem guten Glas Rotwein zurück...”
“Ich lehne mich nie zurück,” erwiderte Wittmann barsch.
“Du liebe Güte, Sie werden doch ab und an auch mal schlafen, oder?”
“Ja, sicher. Trotzdem möchte ich klarstellen, dass die Zeit uns davonrasen könnte . Wir wissen es nicht. Wer sich nur auf Glück oder Pech verlässt, weist seine höchsten Gaben von sich. Wir Menschen machen unser Schicksal, alles andere sind Zufälle, die in reinster Beliebigkeit aufeinander folgen können. Daher mag ich das Wort zurücklehnen nicht, es klingt stark nach Passivität und nach Kapitulation.”
“Darüber können Sie sich mal mit einem Chaosforscher unterhalten.”
“Was gibt es denn am Chaos zu forschen, du liebe Zeit?”
“Das ist in der Physik der letzte Schrei, das macht inzwischen jeder und ist mittlerweile geradezu zum Totschlagargument in jeder wissenschaftlich angehauchten Debatte mutiert. Na ja, ich verstehe nicht viel davon, geb‘ ich zu. Jedenfalls ist die Zeit seit Ihrem Jahr nicht stehen geblieben.”
“Ach ja, ich vergaß,” höhnte der Professor, “deswegen bin ich ja auch im Jahre des Heils 94 der einzige, der eine Zeitmaschine besitzt, ja?”
Die beiden Männer fixierten sich eine kurze Sekunde mit einem Schatten von Feindseligkeit, dann jedoch brach der Ältere den Streit ab: “Wir wollen uns nicht zanken,” sagte er beschwichtigend, “das ist nicht der Zweck meines Besuches, und ich habe wohl auch gar keinen Grund zur Besserwisserei. Bevor wir uns der Lösung unserer kleinen oder großer Probleme zuwenden, kriegen Sie jetzt erst einmal was zu staunen.”
“Die Zeitmaschine?“
“Die Zeitmaschine. Aber vorher genehmigen wir uns vielleicht einen Imbiss.“
Nicht weit östlich von Berlin liegt Frankfurt an der Oder; die kleine Stadt liegt, wie der Name schon sagt, an der Oder und heißt Frankfurt. Man verwechsle sie nicht mit der hessischen „Metropole“!
Nein, Frankfurt/Oder ist brandenburgisch; von der nicht allzu fernen Hauptstadt ist rein gar nichts zu spüren. Es ist eine beschauliche Kleinstadt; große Anhäufungen von Industrie gibt es hier nicht, und der rauschende, nie abreißende Verkehr Berlins ist hier unbekannt.
In dieser Stadt lebt ein Mann. Er ist Ende Dreißig und Schreinermeister.
Die allgemeine Krise hat ihn an den Rand der Arbeitslosigkeit gebracht. Noch gibt es Nachfrage für seine Dienste, doch er verdient eigentlich nicht mehr genug, um sich seinen bescheidenen Lebensstil finanzieren zu können. Und das, wo doch Handwerk goldenen Boden hat. Einen von zwei Gesellen hat er bereits entlassen müssen, und er denkt nun daran, auch den zweiten hinauszuwerfen. Was ihn allerdings große Überwindung kosten wird; er hat keinen Spaß daran, anderen die Existenzgrundlage zu entziehen, und ist in aller Regel ein sozialer und solidarischer Mann. Er ist verwitwet; seine Frau starb vor anderthalb Jahren an einer Krankheit mit einem schwer auszusprechenden lateinischen Namen, und seitdem ist er insgesamt etwas stiller geworden und vertieft sich stärker in seine Arbeit, wenn er denn welche hat. Insgesamt ein recht unauffälliger, nicht dummer, manchmal sogar liebenswürdiger und tüchtiger Zeitgenosse. –Einen kleinen Wermutstropfen muss ich dem geneigten Leser allerdings doch einschenken: der Mann hat einen kleinen Schönheitsfehler; er ist überzeugter Nazi. Judentum, Demokratie und Ausland sind ihm gleichermaßen verhasst. Für ihn steht fest: sie sind schuld. Diese Ansichten vertritt er schon sein halbes Leben, doch es war ihm nie vergönnt gewesen, sie zu artikulieren; nun, wo eine neue Kraft, eine frische Bewegung wieder durch Deutschland zieht, hat er sich dieser Sache verschrieben.
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