“Nein, ich meine, halten Sie mich immer noch für einen Verrückten?”
“Das habe ich nie getan.”
Der andere lächelte laut. “Ach, Herr Fink, Sie beleidigen mich nicht, wenn Sie zugeben, mich anfangs für einen Geistesgestörten gehalten zu haben, das ist ja durchaus normal, zumindest verständlich bei der Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe. Sie brauchen mir altem Hasen ja auch nichts vorzumachen; ich bin das nämlich gewöhnt, dass Leute mich für verrückt halten. Aber ich bin doch recht froh darüber, dass Sie wenigstens versuchen wollen, mich ernst zu nehmen; mehr möchte ich auch gar nicht, und im übrigen ist das schon mehr, als selbst die meisten meiner Kollegen für mich getan haben. So, jetzt möchte ich aber ein wenig von Ihrem Berlin sehen.”
Name: Professor Julius Wittmann
Wohnort: Berlin-Wilmersdorf
geb.: 30. August 1866 in Prenzlau
Größe: 1,68 m
Gewicht: ca. 85 kg
Augenfarbe: blau
Haarfarbe: grau, ehemals hellbraun
Beruf: Physiker
Lieblingsgetränk: Cognac, Wasser
Lieblingsautoren: H. G. Wells, J. Verne
Lieblingsmusiker: L. v. Beethoven
Lieblingskünstler: Michelangelo, Ingres
Lebensstationen: Schule, Studium in Berlin, dann Anstellung und Doktorarbeit (1894) an Humboldt-Universität, Professor seit 1900 erst in Berlin, dann Breslau, dann wieder Berlin
Lebenseinstellung: arbeitsam, forschungsversessen, liberal, idealistisch
Je weiter sie ins Zentrum vorstießen, desto fragender wurde die Miene des Professors.
“Ich erkenne die Stadt nicht mehr wieder. Was ist hier bitteschön passiert? Ich habe durchaus erwartet, dass sich Berlin im Laufe der Jahre verändert; allerdings hatte ich darunter bislang eine Veränderung zum Positiven verstanden. Hier sieht’s ja aus, meine Herren! Welcher Idiot war hier am Werk?”
Christian dämmerte es erst im zweiten Augenblick, dass Wittmann, wenn seine kuriose Geschichte wirklich stimmte, ja nicht wissen konnte, was in den vergangenen 64 Jahren geschehen war.
“Das ist eine lange Geschichte,” versetzte er, “sie beginnt genaugenommen in Ihrer Zeit. Ich bin kein Historiker, ich kann nur sagen: die Nazis haben verloren.”
“Die Wahlen? Na, Gott sei Dank.”
“Nein, den Krieg.”
“Wie bitte? Um Himmels willen, welchen Krieg? Und gegen wen?”
“Ach, eigentlich gegen den Rest der Welt.”
“Sind die Nazis also dann... tatsächlich an die Macht gelangt!?”
An dieser Stelle ersparen wir unseren Lesern zunächst den Dialog zwischen den beiden, Christian erläuterte, so gut er konnte, die Historie der vergangenen vierundsechzig Jahre. Als er endete, war der Kaffee bereits kalt, und der Professor betrachtete die Tasse mit einem melancholischen Blick.
“Das ist ziemlich beunruhigend,” sagte er. “Ich meine: sobald ich irgendwann in meine Zeit wieder zurückkehre, mit dem Wissen, welches Sie mir soeben vermittelt haben, mit dem Wissen, dass alles geradewegs in die Katastrophe führt, und zwar in eine kolossale Tragödie solchen Ausmaßes –da kann ich doch keine Nacht mehr ruhig schlafen. Ich bin kein ängstlicher Mensch, das können Sie mir glauben, aber was Sie mir da erzählt haben, sprengt doch meine Vorstellungskraft um einiges und lässt mich vor allem auch um meinen besten Freund zittern. Er ist Jude, daher. Ich habe immer gefunden, dass der nationalistische und antisemitische Pöbel endlich Ruhe geben sollte. Dass diese Schreihälse derart Recht bekommen, dass sie ihren hasserfüllten Stumpfsinn auch noch ausleben dürfen, in einem solchen Maße!! –nein, das hätte ich nicht gedacht; ich hätte eher vermutet, dass doch am Ende die Vernunft siegt. –Sie waren übrigens mit Ihrer Erzählung noch nicht ganz fertig. Der Krieg verloren, Deutschland geteilt, aber hier wirkt doch alles ganz wohlhabend und gesittet?”
Christian als gebürtiger Ossi versuchte sich an einer differenzierten Antwort.
“Schon, das ist ja auch Westen. Aber Sie müssen sich mal Frankfurt oder München anschauen. Auch wenn die meckern, geht’s denen so gut wie nie, weil die sich den ganzen Kommunismus-Quatsch gespart haben. Zwanzig Jahre nach dem Krieg war man wieder Europas Wirtschaftsmacht Nummer Eins. Da konnten wir in der DDR nur groß gucken. – Ein frustrierender Staat. – Es war ohnehin der größte Witz, ausgerechnet diese Republik demokratisch zu nennen... Natürlich war der Name Larifari; denn außerhalb der SED konnte in diesem verrückten System überhaupt niemand irgendetwas werden.”
“Und was ist nun wieder SED?”
“Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hieß das und meinte so was wie proletarische Einheitsfront und so weiter.”
“Also SPD und KPD in einem?”
“Na ja, von SPD war nicht viel zu merken, sag ich Ihnen. Jedenfalls gab es Politbüros und Planungsbüros und überhaupt sehr viele Büros. Die größte Scheiße war aber die Staatssicherheit; wir haben sie getauft. Das war so ne Art Gestapo für Arme. Wenn man auch nur irgendwie in der Gefahr eines Verdachts war, Systemgegner zu sein, wurde man bespitzelt, abgehört und irgendwann mal verhört, gegebenenfalls auch eingesperrt, und manch einer verschwand auf Nimmerwiedersehen. Außerdem konnten wir auch nicht raus, schließlich gab's ja die Mauer: und da wurde scharf geschossen... Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viele aus‘m Osten rüber wollten, also in die BRD, den Westen. Die alten grauen Herren wussten schon, dass sie knapp das ganze Volk gegen sich hatten. Irgendwann war halt dann der ganze faule Zauber vorbei. Und jetzt ist Deutschland wiedervereinigt, beziehungsweise wir wurden vom Westen so in etwa geschluckt. Russland ist auch nicht mehr kommunistisch, sondern steckt in einer Dauerkrise. Im Prinzip ist wieder alles so wie in Ihrer Zeit.”
“Zu meiner Zeit ist Russland kommunistisch.”
Der Professor sah ihn durchdringend an.
“Hören Sie, lieber Fink, ich würde vorschlagen, wir machen erst einmal Schluss mit der Politik und wenden uns erfreulicheren Dingen zu. Lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen; zum Plaudern haben wir sicherlich noch genug Zeit. Ich möchte ein wenig von der Stadt sehen.”
Die beiden zahlten und schlenderten den Ku’damm entlang Richtung Breitscheidplatz.
“O je,” grummelte der Zeitgereiste, “was ist denn das?”
Er zeigte auf den “hohlen Zahn”, jenen markanten Überrest der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
“Berlin war halt auch ein bisschen kaputt,” meinte Christian lakonisch, “aber finden Sie nicht, dass es etwas bunter geworden ist?”
Der andere schaute sich um.
“Nun ja,” erwiderte er achselzuckend, “es sind mehr Neger hier, wenn Sie das meinen.”
“Es heißt Farbige, nicht Neger,” verbesserte Christian.
“Oh, ich wollte nicht abwertend sein.”
“Es sind mehr bunte Leute hier: schauen Sie, manche färben sich die Haare, es sind Menschen aus aller Herren Länder unterwegs, man zieht sich das an, worauf man gerade Bock hat...”
“Bock?”
“Oh, entschuldigen Sie; das ist auch so ein neudeutsches Wort, das nicht mehr totzukriegen ist.
Es bedeutet so viel wie Lust, im ganz neutralen Sinne.”
“Aha. Und woher kennen Sie das Berlin meiner Zeit? Ich frage, weil Sie einfach so geurteilt haben, dass Ihr Berlin bunter ist als meines?”
Christian musste kurz überlegen.
“Stimmt, Sie haben recht; von Filmen und Fotografien, und die sind schwarzweiß.”
Der Professor lachte.
“Ich hätte nie vermutet, dass Sie sich in Ihrem Alter noch Reste solcher Naivität bewahrt haben.
–Übrigens, sagen Sie mal: wie alt sind Sie eigentlich?”
“Ich bin vierunddreißig. Ich könnte Ihr Sohn sein. Oder”, fügte er grinsend hinzu, “Ihr Urenkel. Schließlich sind Sie offiziell hundertachtundzwanzig!”
Читать дальше