“Dürfen wir jetzt gehen?” fragte Sophie, die ältere.
Der Beamte runzelte die Stirn. “Ich muss sie gehen lassen. Es gibt ja keinen Grund, Sie hier festzuhalten. Allerdings möchte ich Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten. Nicht weil ich Ihnen misstraue oder irgendwas zur Last legen wollte, sondern weil hier einige seltsame Dinge vor sich gehen, zu deren Klärung wir Sie vielleicht benötigen. Bleiben Sie beide bitte in der Stadt, und bleiben Sie bitte für uns erreichbar.”
Die beiden Frauen wurden entlassen, und untergehakt wie Oma und Enkelin traten sie aus dem Polizeigebäude auf die offene Straße.
Der ältere Beamte starrte auf sein Telefon und danach auf seinen Kollegen: “Und? Was meinst du?”
“Süß.”
“Oh, nicht schon wieder. Such dir endlich ne Freundin. Die hier ist nix für dich, die ist ne Nummer zu groß. –Was hältst du von der Sache ?”
“Ich glaube, hier steht irgendwo ne Zeitmaschine.”
“Ach was.”
Thomas zuckte mit den Achseln. Er kannte das. Seine Ideen galten schon immer als viel zu abgefahren.
Name: Charlotte Rodewsky
Wohnort: Berlin-Schöneberg
geb. am 19. April 1910 in Berlin-Spandau
Größe: 1,73m
Gewicht: max. 53 kg
Augenfarbe: dunkelbraun
Haarfarbe: kastanienbraun
Beruf: derzeit Tänzerin; Jobs
Lieblingsgetränk: wechselt jeden Tag
Lieblingsmusiker: George Gershwin, Friedrich Hollaender
größte Abneigung: politisch motivierte Dummschwätzer
Lebensstationen: alles dreht sich um Berlin
Lebenseinstellung: locker, kämpferisch, genießerisch
Die beiden Frauen saßen in einem ziemlich biederen Café.
Charlotte fühlte sich etwas befangen; schließlich war ihr Gegenüber, auch wenn es sich um ihre Freundin handelte, eine alte Dame, und sie wusste nicht recht, worüber sie nun sprechen sollten. Auch hatte sie Mühe damit, diesen Menschen zu duzen.
“Du liebe Jüte, bin ick erschrocken,” versuchte sie zu plaudern, “wie ick da lieje, und allet sieht aus wie ick weeß nich wat. Ick fühl mir jetz noch janz daneben. Dabei ha’ck doch jar nischt jemacht.”
Natürlich war ihre Freundin genauso verunsichert wie sie, die alte Dame wollte wissen, was hier gespielt wurde, aber im Grunde war sie vor allem fassungslos.
“Du bist wirklich die alte Charlie? –Na, ich meine, die junge Charlie? Du hast dich nicht zurück verwandelt?”
“Na, mittlerweile will ick ja nischt mehr ausschließen. Aber wie ick umjefalln bin, war noch 1930.”
“Mein Gott, wie kann denn so was passieren? Und du kannst dich nicht erinnern, auch nicht an deine Männer?”
“Wat heißt hier meine Männer?”
“Meine Güte, du hattest ja wahrlich nie ein Problem damit. Na, du konntest deine Männer ja immer schnell vergessen. Ich war da immer anders. Du liebe Zeit, seit fünfundzwanzig Jahren bin ich jetzt allein.”
Charlotte schwieg. Man kann sich vorstellen, dass sie diese Art von Unterhaltung nicht gewöhnt war und nicht besonders schätzte.
Und nun begann die Ältere ihr ihre halbe Lebensgeschichte zu erzählen, was Charlotte, gerade erst halbwegs zu sich gekommen, überhaupt nicht schön fand; Sophie erzählte von mehreren Männern und Ehen und von den Bombennächten, und wie sie stets Freundinnen geblieben waren, wie sie selbst, Sophie, ihre Freundin immer für ihre Tatkraft und ihren unbedingten Lebenswillen bewundert hatte, wie Charlotte nach mehreren Heirats- und anderen Beziehungsversuchen ihren alten Namen schließlich wieder angenommen hatte, was in Berlin nach dem Krieg passiert war, und sie erzählte und erzählte und wollte gar nicht wahr haben, wie sehr Charlotte damit überfordert und erschreckt zugleich war, wollte auch nicht wahrhaben, dass sie sich im Grunde mehr ihre eigene Lebensgeschichte erzählte, etwas verträumt und sentimental, wie alte Menschen gerne sind; sie wollte auch nicht wahrhaben, dass ihre Freundin Charlotte all diese Dinge nicht einfach vergessen, sondern schlicht und einfach noch nicht erlebt hatte, auch nicht, dass ihre Unterhaltung für das Mädchen mehr und mehr von einer überraschenden, unangenehmen Begegnung zu einer Quälerei wurde, denn wer hört schon gerne seine Lebensgeschichte der Zukunft, vorgetragen, als sei sie Vergangenheit, als sei sie –vorbei?
So spürte Charlotte nur Fremdheit, Altersunterschied und die Entfernung, die zwischen ihnen lag; auch die Angst, ein Leben nicht gelebt zu haben; sie spürte ihren Lebensmut, ihre Kraft entweichen. Sie war in der falschen Zeit gelandet, ohne zu wissen, warum; eine Chance oder eine Warnung für sie, alles richtig oder besser zu machen? oder ein trivialer Zufall? oder waren böse Mächte am Werk, die ihr das Leben zur Hölle machen wollten? Gab es einen vorbestimmten Zwang, so und nicht anders zu handeln, so und nicht anders alt zu werden, ohne Freiheit, Abenteuer, Leidenschaft? Ihr wurde schlecht bei diesen Gedanken, und ihr Kopf schwirrte. Sie stand auf.
“Mir is übel,” sagte sie mitten in die ausgebreitete Erzählung ihrer Freundin, “Ick muss raus.”
Und weg war sie; sie entschwand in den belebten, bald mittäglichen Straßen der großen Stadt.
Zurück blieb eine alte Dame, mit gemischten Gefühlen von Neid, Bewunderung und ganz tiefer Wehmut. Denn es gibt Lebensgeschichten voller Verirrung, Vergebung, Verrat, voller Liebe und Leidenschaft, Bitterkeit, Romantik und Schmerz; und eine solche hatte sie erlebt und erzählt: ihre eigene, die, und das wurde ihr in diesem Moment erstmals tief und grausam bewusst, vorbei war.
Sie legte die Hand an die Lippen und fing an, erstmals seit vielen Jahren, hemmungslos zu schluchzen.
Christian Fink und Professor Wittmann hatten gegessen und Zigarren gekauft, und nun betraten sie ihre, wenn man so will, gemeinsame Wohnung. Auch diese beiden hatten sich viel zu erzählen, aber da sie sich ja noch nicht kannten und einander mit ungetrübtem Blick sehen konnten, ja durften, war ihr Verhältnis unverkrampft –ein neugieriges Sichkennenlernen.
Von Anfang an sprach viel dafür, dass sich diese beiden unterschiedlichen Charaktere hervorragend verstanden.
Vor allem der Professor war sehr überrascht, in seinem Alter noch jemanden falsch eingeschätzt zu haben. Wie alle Idealisten hielt er nicht viel von den Menschen, die ihn umgaben, er meinte allzu oft, sie beleidigten seine Intelligenz, und die Welt könnte so viel besser aussehen, wenn...
Daher bevorzugte er das einsame, zurückgezogene Leben, in welchem er den Dingen nachgehen konnte, für die er sich berufen fühlte –und es wahrscheinlich auch war.
Doch Christian Fink kam ihm anders vor als ein nur durchschnittlicher Mensch: immerhin, wenn auch aus ihm schleierhaften Gründen, war er der erste gewesen, der ihn ernst nahm, noch bevor er ja die tolle Maschine zu Gesicht bekommen hatte.
Ein bisschen schien es so, als suchten beide dasselbe: ein Abenteuer, oder vielleicht die Grenzen des Möglichen zu durchbrechen; und ein wenig fühlte sich der Professor an sich selber in jüngeren Jahren erinnert. Dieser Fink besaß die rührende Schüchternheit des noch nicht ganz gefestigten, etwas unsicheren, fast noch jungen Menschen, der die suchende Hoffnung noch nicht ganz verloren hat; wenigstens war das Wittmanns Ansicht. Und so nahm das autoritäre und oft etwas rüde Wesen des Alten in Christians Gegenwart nach und nach mildere und gefühlvollere Züge an, ob väterliche oder freundschaftliche, sind wir uns noch nicht sicher; und umgekehrt stachelte der Wissenschaftler aus der Vergangenheit in Christian fast verloren geglaubte Eigenschaften wie Staunen, Neugier und Risikofreude an.
“Haben Sie eigentlich mit Ihrem Büro telefoniert?” fragte Wittmann, als sie die Wohnung erreichten und Christian den Schlüssel ins Schloss steckte.
“Ja, schon, als Sie auf der Toilette waren, ich bin für die jetzt krank. Ich hielt es für besser, eine kleine Notlüge vorzuschieben.”
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