1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 –Nun ja, dieser Teil der Armatur ist natürlich mit der Affirmativkonsole verbunden, wie Sie sich sicherlich denken konnten. Wer weiß, wo sonst in der Zeit Sie ankämen, ganz besonders in jenem verflixten sechsten Gang. Sie können es jetzt wahrscheinlich nicht erkennen, bei dem schwachen Licht, doch wenn man genau hinschaut, bemerkt man oberhalb der oberen Anzeigen noch einmal vier sehr kleine, gleich geartete Zahlenfelder. Sie geben das reelle Datum an, an welchem man sich gerade befindet und sind optimalerweise bei der Ankunft mit den darunter stehenden Zahlen identisch. In meinem Fall waren sie es. Es ist ein weiteres Bestätigungsfeld, das ich zu meiner Sicherheit unbedingt einbauen wollte. Nun, Herr Fink, eine kleine Reise gefällig?”
Wittmann schmunzelte.
“Oh, nein, danke, Herr Professor.”
“Nicht einmal einen kleinen Tag?”
“Später vielleicht. Jetzt hab ich einen Bärenhunger. Der Snack vorhin war nicht gerade ein Festmahl.”
„Snack?“
„Mein Gott, Sie verstehen ja wirklich gar nichts. Das Wort meint so was wie Imbiss, herrje.“
“Dann sagen Sie‘s doch, anstatt mit überflüssigen Fremdwörtern zu hantieren. Übrigens würde ich gerne irgendwann Tabak kaufen. Wenn Sie mir welchen spendieren würden?”
“Na ja, ich bin Nichtraucher. Hm. Aber kein Volkserzieher. Sagen Sie mir, welchen Sie bevorzugen.”
“Hört, hört, welch gepflegte Sprache Er an den Tag legt!” spaßte der Mann aus dem neunzehnten Jahrhundert, “meine Gesellschaft scheint Ihnen gut zu tun.”
“Haben Sie eine Pfeife, oder drehen Sie?”
“Mist, das habe ich vergessen! Ich wusste es. Ich bin Pfeifenraucher... –Ach, gegen eine gute Zigarre ist auch nichts einzuwenden. Am besten, wir machen jetzt das Licht aus und gehen speisen.”
Begegnungen
Am Vormittag des besagten Tages hatte man eine junge Frau von der Straße aufgelesen.
Sie befand sich in einem Zustand äußerster Erregtheit, ihre Wangen bleich und eingefallen, und ihre Augen verrieten, wie übernächtigt sie war. Sie zitterte am ganzen Leib, als seien ihr die Marsmenschen in sich drehenden Raumschiffen erschienen.
Als die Polizei kam, hatte sie sich schon wieder etwas beruhigt. Die Beamten geleiteten sie mit für polizeiliche Verhältnisse außerordentlich freundlichen Worten in den bereitstehenden Wagen; sie sei nicht festgenommen, man wolle ihr nur helfen. Von der umstehenden Bevölkerung war die Polizei bereits darüber informiert worden, dass das Mädchen offensichtlich sein Gedächtnis verloren hatte, denn sie hatte allen gestellten Fragen nicht antworten können oder wollen. Irgendetwas musste sie fürchterlich mitgenommen haben, denn sie hatte in einem kleinen Geschäft, in das sie wahrscheinlich irrtümlicherweise gegangen war, einen regelrechten hysterischen Anfall bekommen.
Sie saß hinten links im Polizeiwagen, neben ihr ein junger Beamter, der sie scheu musterte.
In einem anderen Zustand musste sie ein außergewöhnlich schönes Mädchen sein, fand er.
Sie hatte einen gewissen Zwanziger-Jahre-Chic, der die jungen Berlinerinnen seiner Meinung nach einstmals ausgezeichnet hatte, und den man auch heutzutage gerne mit dieser Stadt in Verbindung bringt. Ihr Haar war kastanienbraun, ihr einstiger Bubikopf ein bisschen in die Länge geraten. Melancholische große schwarze Augen hoben sich unter äußerst grazilen, feinen Brauen von dem bleichen, ebenmäßigen Gesicht ab. Ihre schmale, gerade, aber ein wenig zu lange, vielleicht zu spitze Nase schien ihm eben jener winzige Fehler zu sein, der ein schönes Gesicht erst perfekt machte. Sie war sehr luftig bekleidet und musste frieren, dachte der Beamte, der jedoch zu schüchtern und vielleicht auch zu taktvoll war, sie danach zu fragen, nachdem bereits halb Schöneberg sie ausgefragt und angefasst hatte.
Berlin zog am Fenster vorbei und sah modern aus. Die junge Frau, inzwischen ganz ruhig, schaute mit riesigen, tränengefüllten Augen hinaus. Die Stadt war erwacht und pumpte mit emsiger Kraft Menschen durch die vielen Tausend Straßen; sie tat sehr geschäftig, aber die junge Frische eines schönen Spätsommermorgens lag noch in ihr. Leute standen herum und quatschten, andere, in Anzug und Krawatte, befanden sich auf dem Weg zu ihrer alltäglichen Dienst- oder Arbeitsstelle; Dutzende verschiedene Nationalitäten auf der Straße; ein dicker älterer Herr, der wie Professor Unrat aussah, erregte kurz die Aufmerksamkeit der Fahrzeuginsassen.
Die Fahrt war nicht besonders lang; das Revier lag um die Ecke. Angekommen, geleitete man die junge Frau hinein, und ihre grazile Erscheinung überraschte die gerade Diensthabenden derart, dass sie ihren üblichen Frust auf der Stelle vergaßen und sich rührend um sie bemühten. Alsbald saß sie auf dem bequemsten Polsterstuhl des Reviers, einer schicken Rollenkonstruktion, für welche die Berliner Polizei eigentlich gar kein Geld hatte. Sie hatte einen Kaffee vor sich und durfte trotz Rauchverbots eine Zigarette qualmen, die ihr der ältere Beamte mit dem grauen Vollbart reichte.
Zwei andere tuschelten miteinander: Fall für die Psychiatrie, wir sind hier verkehrt.
Der ältere Mann schaute sie mit sorgenvollen Augen väterlich an.
“Sie müssen keine Angst haben. Wir möchten Ihnen nur helfen, ein Arzt ist auch schon unterwegs. Vielleicht können Sie uns sagen, was passiert ist, dann kommen wir weiter.”
Die junge Frau betrachtete gedankenverloren ihren Kaffee. Sie schien so zerbrechlich und mitgenommen, dass ihr das Mitleid der gesamten Wache sicher war.
Natürlich musste man herauskriegen, was geschehen war; vielleicht war ein Verbrechen an ihr verübt worden, dann würde man alles Menschenmögliche veranstalten, um das Schwein zu kriegen, welches einer derart hübschen, grazilen Person etwas antun würde...
“Vielleicht fangen wir von vorne an,” meinte der ältere Beamte, offenbar der Ranghöchste auf der kleinen Wache, “vielleicht sagen Sie uns Ihren Namen.”
Das Mädchen blies den Rauch in die Luft und schien sich zu sammeln.
“Charlotte Rodewsky. Und ick brauch keen Arzt.”
Der Väterliche nickte. “Na also, geht doch. Und wo wohnen Sie?”
“Na, in Berlin.”
“Das haben wir uns auch schon gedacht. Vielleicht sagen Sie uns Ihre Adresse?”
Sie nannte eine Straße mit dazugehöriger Zahl. Natürlich waren die polizeilichen Computer aufgrund eingangs erwähnter Störung nicht betriebsbereit, und die vorhandenen Karteikarten waren derart unvollständig, dass man sich gar nicht erst auf die Suche zu machen brauchte.
Eine Telefonnummer wäre vielleicht nützlicher.
“Ick hab aber kein Telefon,” antwortete Charlotte.
Die Beamten wechselten ungläubige Blicke.
“Wirklich nich. Wer hat denn mit meinem Hungerlohn Telefon?”
“Na ja,” meinte der Väterliche, “es hätte ja sein können. Wir wollen Sie auch zu nichts zwingen, wir wollen Ihnen nur helfen; und da müssten Sie dann schon Angaben...”
“Ja, ja,” unterbrach sie ihn, “erklärt mir man bloß, wat hier los is. Ick werd det Jefühl nich los, irjendeiner is mir hier jewaltig am vergackeiern. Erklären, wat hier los is: det wär wirklich knorke.”
“Knorke?”
Die Beamten schauten sich abermals verwundert an, als Charlotte ebenso verwundert aufblickte und zum erstenmal ihre Augen auf irgend jemand bestimmtes richtete, den Beamten nämlich, welcher neben ihr im Wagen gesessen hatte. Er wurde rot und grinste verlegen, doch Charlotte wollte offensichtlich nicht mit ihrem natürlichen Charme spielen.
“Na, knorke halt,” erläuterte sie, “seid ihr von vorgestern oder wat? Det sagt doch janz Berlin. Aber irjendwat läuft hier sowieso verkehrt. Und wat habt ihr ooch für komische Uniformen an...!?”
“Hm... Erklären Sie uns doch, was hier verkehrt läuft.”
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