Noch auf der Heimreise erreichten sie beunruhigende Nachrichten. Sirnan, Lausan und Rotfurt waren der bösartigen Verleumdung gefolgt, nach der Rhodena nicht Polanas’ leibliche Tochter wäre, und hatten sich dem Aufstand angeschlossen. Sylva wollte auf der Stelle umkehren und sich den kaiserlichen Streitkräften anschließen und stritt darüber mit Reimer.
„Die Aufständischen haben ohne Unterstützung durch die Weißen Magier keine Aussicht auf Erfolg“, versicherte er ihr. „Ich schick Dich sicher nicht ohne Abschluss in den Krieg.“
Bei ihrem Eintreffen erinnerte die Schule an einen aufgescheuchten Bienenstock, und noch am selben Abend beorderte sie der Rektor in den Festsaal. Seine Mitteilungen waren erschreckend und von weitreichender Auswirkung für die angehenden Zauberer. In Unkenntnis der Größe des Aufstandes und der Stärke der feindlichen Kräfte war das kaiserliche Heer geschlagen und zurückgeworfen worden. Zudem genoss der Feind viel stärkere magische Unterstützung als erwartet. Nicht nur die Akademie von Lausan, sondern auch Anhänger der Schwarzen Lehre und andere, nicht näher benannte Zauberkundige unterstützten die Rebellion, was das Ausmaß der Niederlage noch verstärkt hatte.
Die Lehrkräfte entschieden sich für eine abgekürzte Abschlussprüfung, die sich auf die Fähigkeiten des Kampfes, seien es aktive Angriffsschläge oder die Abwehr feindlicher Magie, konzentrierte. Oft hatten einige Lehrer, allen voran Vilana Südfahrer, Sylvas theoretische Leistungen kritisiert, ihr Versagen in der Alchimie und ihre rudimentäre Kenntnis der alten Sprachen bemängelt, doch plötzlich schien dies nicht mehr von Bedeutung zu sein.
Mit ihr traten die braunhaarige Nikki und ein hoch gewachsener Novize namens Lothran an. Beide waren in vielen Dingen besser, aber Sylva war die Einzige, die den gefährlichen Großen Feuerball zumindest in seinen Grundzügen meisterte. Gut ausgeführt konnte man damit eine halbe Kompanie verbrennen und einen Kampf entscheiden, ehe er überhaupt begann.
Allerdings hatte die Ausführung auf einem Übungsplatz mit der Anwendung im Gefecht nicht viel gemein. Jeder Absolvent des kämpfenden Zweiges wusste um den Rückschlag auf den Zauberer. Deshalb übten die Novizen die Kampfzauber an Ratten, um die nadelartigen Stiche kennenzulernen, aber nur Sylva kannte den Schmerz, der mit dem Tod eines Menschen einherging. In der Nacht vor der Krönung hatte sie sich gegen Einbrecher zur Wehr gesetzt und zwei von ihnen getötet. Damals war ihr übel geworden, und sie war noch nicht darüber hinweg.
Während der Prüfung ließ Magister Reimer bei der Demonstration der Schock-, Frost- und Feuerzauber nicht locker, ehe ihre magischen Energien aufgebraucht waren. Erschöpft und von geistiger Leere erfüllt, zwang er sie, die letzten Zauber mit der Kraft ihres Lebens zu speisen. Magistra Südfahrer protestierte, da dies den Prüfungsregeln widersprach, aber das Kollegium ließ den erfahrenen Kampfmagier gewähren bis Nikki zusammenbrach.
Noch während Sylva und Lothran nach Atem rangen, griff Reimer an. Trotz ihrer Überzahl konnten sie sich seiner Schläge kaum erwehren. Sein Kampfstab sauste in rasender Folge auf die Novizen nieder, und bald spürte Sylva die nagende Erschöpfung. Ihre zunehmend tauben Arme würden seinen Angriffen nicht mehr lange standhalten. Als der Lehrmeister Lothran mit einer schnellen Kombination entwaffnete, gab sie auf.
Reimer ignorierte ihre Kapitulation und sie wehrte sich mit wachsender Verzweiflung. Plötzlich griff er den unbewaffneten Lothran an und holte zu einem heftigen Schlag aus. „LICHTBLITZ“, schrie Sylva erschrocken und stieß ihre Linke vor, während die Magie wieder einen Funken Leben aus ihrem geschundenen Körper riss. Reimer brach den Angriff ab und hob die Arme schützend vors Gesicht. Mit einem wütenden Aufschrei hieb Sylva nach seinem Kopf, traf seine Stirn und er fiel um wie ein Brett.
Erschrocken ließ sie ihren Stab fallen und stürzte zu ihm. Wie durch einen Schleier hörte sie Magistra Südfahrer geifern: „Sie hat eine Lehrkraft mit Magie angegriffen. Ausschluss! Gemäß der Akademieordnung ist sie auszuschließen!“
Ist alles vorbei? Hat ein Moment mangelnder Selbstbeherrschung alles zerstört? Tränen der Erschöpfung und der Verzweiflung liefen über ihre Wangen. Ihre Lippen formten Worte der Heilung, die sie nicht mehr mit Magie füllen konnte, bis sie jemand beiseite zog und ins Gras bettete. „Verweis von der Akademie! Ausschluss aus der Gilde!“, keifte die Südfahrer durch den Tumult.
„RUHE!“ Die kräftige Stimme des Schulleiters beendete die Debatte. „Wertes Kollegium, wir haben gesehen, was einen Bethaner Absolventen ausmacht. Disziplinierte Magieanwendung im Sinne der Aufgabe bis zur Erschöpfung der magischen Energien und darüber hinaus.“
Sylva fühlte eine Flasche an ihrem Mund.
„Ausdauernder, aufopferungsvoller Kampf gegen einen überlegenen Gegner.“
Sie schluckte den wärmenden Trank und spürte augenblicklich seine heilende Wirkung. Ihr Kopf wurde klarer.
„Einhaltung der Regeln des Kampfes, so lange es ihr möglich war. Und die Verletzung dieser Regeln, als es der Schutz eines Unschuldigen erforderte und kein anderes Mittel mehr zu Gebot stand. Wer möchte der frischgebackenen Magistra zu ihrer mit Auszeichnung bestandenen Abschlussprüfung gratulieren?“
Magistra Südfahrer sog scharf die Luft ein. Dann stand Magister Reimer vor Sylva und zog sie auf ihre noch wackeligen Beine. Fassungslos starrte sie auf die riesige Beule an seiner Stirn. „Ich bin so stolz auf Dich, Mädchen“, strahlte er und zog sie in seine Arme. „Der Blitz war mutig. Du konntest nicht wissen, ob Du meinen Geist bezwingen kannst. Du hast damit nicht nur Lothran gerettet, sondern auch einen aussichtlosen Kampf für Dich entschieden.“
* * *
Die Magierin saß aufrecht im Sattel ihres schwarzen Hengstes. Beinahe hätte die junge Frau in der weißen Robe stolz und eindrucksvoll gewirkt, doch der müde Blick von Ross und Reiterin trübte das Bild. Hier, in den Ausläufern des baelischen Kammes, war die Landschaft lieblich und freundlich. Unter ihnen lag ein herrlich schönes Tal und an den tiefer gelegenen Nordhängen durchbrachen Weinberge und von saftige Wiesen den Mischwald.
„Sylva?“ Torins Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Wir müssen weiter.“
Obwohl Rhodenas Krönung und ihre Abschlussprüfung keine drei Monde zurücklagen, schienen die Erinnerungen daran in ein anderes, früheres Leben zu gehören. Die abgekämpften Reiter, deren müde Tiere sich widerwillig über den Anstieg quälten, verdeutlichten Sylva, dass die Jahre des Friedens vorbei waren. Als die Reihe der berittenen Schützen vorübergezogen war, trieben die Beiden ihre Pferde an um aufzuschließen.
Sylva sollte erste Kampferfahrungen machen und hatte sich gefreut, als sie dem Kommando ihres Freundes zugeteilt worden war, aber der Einsatz entwickelte sich zu einem Desaster. Militärisch betrachtet war ihr Trupp von etwa dreißig Kundschaftern unbedeutend und ihr Auftrag, feindliche Bewegungen südöstlich der Stadt Chur aufzuklären, hatte schon lange seine Bedeutung verloren.
Eine mehrfache Übermacht drängte sie nach Süden ab und die Reiter aus Sirnan verfolgten sie jetzt seit sechs Tagen. Obwohl Torins Leute jeden Trick anwandten, der ihnen in den Sinn kam, ließ sich der hartnäckige Gegner nicht abschütteln. Wie es aussah, mussten sie noch tiefer in das unwegsamer werdende Hügelland zurückfallen.
„Das ergibt keinen Sinn“, fluchte Torin. „Wieso jagen die hinter uns paar Figuren drei ganze Abteilungen her?“
Sylva zuckte mit den Achseln. Sie wusste keine Antwort.
„Haben die sicher einen Magier dabei?“ bohrte der junge Leutnant nach.
„Zumindest einen“, erwiderte die Magierin. „Deshalb können wir sie auch nicht abschütteln.“
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