In Schützensorge saß gleichfalls ein ehemaliger polnischer Arbeitssklave auf dem Hof meines Vaters. Erneut Rache, Verderben, Hass? Ich fürchtete nicht die Drohungen des Polen, aber meines Vaters Reaktion hierauf. Mein Vater war zu schwach, um der Wahrheit in die Augen zu sehen. Die Zerstörung und den Zerfall des Erbes seiner Väter sollte er nicht sehen. Den Hass sollte er nicht mit ins Grab nehmen.
Mein Vater irrte nach dem Waffenstillstand heimatlos in Westdeutschland herum. Er versuchte, eine Zuflucht zu finden. Auch hier halfen die Kameraden. Ein Freund meines Vaters hatte einen Gutsbesitzer in Niedersachsen gekannt. Der Gutsbesitzer war während des Krieges gefallen. Ohne sachverständige Verwaltung verwahrloste sein Gut. Es lag in Martfeld, dreißig Kilometer von Bremen entfernt.
Wie einst die Bremer Stadtmusikanten so marschierte jetzt mein Vater nach Bremen. Hier konnte er unterkriechen. Hier konnte er seine Wunden lecken. Erst mal wieder ein Dach über dem Kopf und etwas Warmes im Magen. Mein Vater wurde der Verwalter vom „Jagdmeierhof“ in Martfeld.
In Martfeld lebte eine Kriegswitwe mit vier kleinen Kindern. Sie konnte als Frau den Hof ihres gefallenen Mannes nicht alleine ohne fachliche Hilfe bewirtschaften. Nach der Ehescheidung von meiner Mutter heiratete mein Vater diese Kriegswitwe.
Natürlich würde der älteste Sohn der Frau den Hof einmal erben. Aber mein Vater verstand sich ausgezeichnet mit diesem Sohn. Außerdem gab es ein ungeschriebenes Gesetzt von einem Altenteil. Wenn Bauern den Hof an die nächste Generation abgaben, wurden sie bis zu ihrem Lebensende vom Hof mit versorgt. Mein Vater fühlte sich finanziell und sozial abgesichert. Es kam anders.
Zunächst starb der älteste Sohn und Hoferbe mit achtzehn Jahren. Er ertrank in der Weser. Dann starb die zweite Frau meines Vaters an Leukämie. Ich weigerte mich, den zweiten Sohn, der nun Hoferbe wurde, zu heiraten.
Danach musste mein Vater den Hof verlassen, die beiden Kinder seiner Frau sprachen nicht mehr mit ihm.
Als Grund hierfür wurden finanzielle Streitigkeiten angegeben. Mein Vater hatte dreizehn Jahre lang den Hof bewirtschaftet, ohne ein Gehalt zu beziehen, ohne für sich selber etwas zurückzulegen und ohne für sich eine Alters- und Rentenversicherung einzuzahlen. Mein Vater stand mit vierundfünfzig Jahren mittellos auf der Straße. Er engagierte einen Advokat, um die sozialen Leistungen der Alters- und Rentenversicherung nachgezahlt zu bekommen.
Das empörte meine Stiefschwestern. Rentenversicherungsbeiträge für die Arbeit, die er auf dem Hof geleistet hatte? So etwas gab es nicht in ihrem Bewusstseinsradius. Das war eine Beleidigung gegen ihr erbliches Besitzerrecht. Das war Raub an ihrem Eigentum.
Ende der achtziger Jahre und Anfang der neunziger Jahre hatte mein Vater mehrere Schlaganfälle. Ich war in Bremen, um ihn zu pflegen. In der letzten Zeit vor seinem Tod hatte mein Vater nur einen Wunsch: Er wollte alle seine Häuser und alle Plätze, wo er gewohnt hatte, noch einmal wieder sehen. Ich versuchte, ihm diese Wünsche zu erfüllen. Das war nicht immer möglich.
Ich war im Sommer 1992 in Bremen. In mehreren Wochen rollte in dieser Zeit ein Gewitter nach dem anderen zwischen der Weser und Elbe hin und her. Die Luft war drückend schwül. Sie entlud sich jeden Tag in Donner und Blitzen. Mein Vater war krank und schwach. Dieses Wetter machte ihn ganz fertig. Ich konnte ihn nicht jeden Tag auf allen möglichen Autobahnen mit mir herum schleppen. Mein Vater bettelte wie ein Kind. Am 11. Juni 1992 saß er morgens um acht Uhr fertig angezogen in seinem Krankenzimmer. Er hatte noch nicht gegessen. Sein Frühstückbrot hatte er sich einpacken lassen, das wollte er unterwegs essen.
„ Heidi, wenn du mich jetzt nicht nach Martfeld fährst, werde ich dir das nie verzeihen .“
Von Bremen nach Martfeld sind es ungefähr dreißig Kilometer. Wenn ich ruhig fuhr, hätte er das schaffen können, glaubte ich. Es kam anders. Auf der Autobahn von Bremen nach Verden an der Aller bekam er keine Luft mehr. Ich machte das Fenster auf. Mein Vater bekam Durchzug. Ich musste das Fenster wieder zumachen. Ich hielt das Auto auf der Autobahn an und wollte ihn hinlegen. Da bekam er erst recht keine Luft mehr. Ich wollte sofort zum Krankenhaus nach Bremen zurückfahren. Mein Vater bettelte darum weiterzufahren:
„ In ein paar Minuten sind wir in Martfeld .“
Auf dem Hof in Martfeld blieb er auf der Diele tot liegen. Im Krankenwagen wurde er mit Elektroschock noch einmal zurück ins Leben geholt und ins Krankenhaus nach Hoya gefahren.
Das erste Mal starb er also auf dem Hof, auf dem er mit seiner zweiten Frau dreizehn Jahre lang gelebt hatte. Die Kinder seiner zweiten Frau hatte er als seine Kinder geliebt und behandelt. Das zweite Mal starb er im gleichen Krankenhaus in Hoya, in dem auch seine zweite Frau gestorben war. Die Kinder seiner zweiten Frau sind nicht zu seiner Beerdigung nach Bremen gekommen. Hier enden meine Kindheitserinnerungen an den Hof in Martfeld.
Ehret die Toten! Das ist das, was die Menschen den Tieren voraushaben. Wenn sie das nicht einmal können, fallen sie noch unter das Tierische.
Ingeborg
Ingeborg
I.
Als mein Vater den Hof in Martfeld verlassen musste, bekam er eine Anstellung bei der Regierung von Niedersachsen. Damals sollten die Flüchtlinge, die aus der ehemaligen DDR kamen, in der Lüneburger Heide angesiedelt werden. Öde Gebiete der Lüneburger Heide sollten urbar gemacht werden. Hier konnten sich die aus der DDR geflüchteten Bauern ein neues Leben aufbauen.
Mein Vater stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Finanzamt, Steuern, Abrechnungen, Buchführung, Banken, Darlehen, staatliche Unterstützungen, Einkauf technischer Hilfsmittel, Urbanisierung, Anbau von landwirtschaftlichen Produkten, Absatzmärkte, alles das waren seine Fachbereiche. Er war mit Herz und Seele Bauer. Er hatte eine landwirtschaftliche Fachschule besucht. Er hatte eine jahrzehntelange Berufserfahrung und ein glühendes Engagement.
Als mein Vater den Hof in Martfeld verlassen musste, wohnte er zuerst in einem möblierten Zimmer. Das war zu primitiv für einen alleinstehenden Mann über Fünfzig. Er zog in ein Hotel um. Hier bezahlte er für eine Vollpension.
Er aß jeden Tag in der Gaststube. Das Essen war gut und reichlich. Seine Bekannten und Freunde traf er in der Gaststube. Seine schriftlichen Arbeiten erledigte er in der Gaststube. Seine geschäftlichen Besprechungen hatte er in der Gaststube. Dabei wurde gegessen und getrunken, gedankenlos, aus reiner Gewohnheit oder als gesellschaftliche Verpflichtung und Höflichkeit. Mein Vater wurde dick und dicker. Er kränkelte. Mal hatte er dies, mal hatte er jenes. Er sah aufgeblasen, blass und ungesund aus.
Sein Leben lang hatte er auf dem Hof körperlich schwer gearbeitet. Jetzt hatte er nur noch Papierarbeit. Sport als Freizeitbeschäftigung hatte er nie gekannt. Mit so etwas beschäftigte sich früher kein Bauer. Mein Vater musste lernen umzudenken, er musste seinen neuen Lebensstil intellektuell aufarbeiten. Im Hotel und in der Gaststube hatte er kein langes Leben vor sich. Welche Alternative hatte er? Er hatte in seinem ganzen Leben niemals einen eigenen Haushalt geführt. Er hatte niemals sein eigenes Essen gekocht. Das war für ihn Frauenarbeit. Also musste er heiraten. Nur so konnte er sich ein neues Zuhause aufbauen.
In all den Jahren, wo ich von meiner Mutter weggelaufen und zu meinem Vater gefahren bin, hatte ich ein gutes Verhältnis zu meinem Vater bekommen. Als mein Vater wieder heiraten wollte, bat er mich um Rat und Hilfe.
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