Meine Schwester und ihr Mann lebten im Westen vom Großraum von Paris. In Frankreich gibt es Franzosen und Pariser. Ein Pariser ist die Inkarnation eines Franzosen, aber ein Franzose ist noch lange kein Pariser. Wer diesen Unterschied nicht zu würdigen weiß, ist ein Babar.
Ingeborg und mein Vater wussten nichts und verstanden gar nichts. Sie langweilten sich. Die Umgebung von Paris? Totlangweilig! Hier gab es nichts, was einen gebildeten Menschen interessieren könnte. Wieso meine Schwester ausgerechnet nach Frankreich umgezogen war, konnten sie überhaupt nicht verstehen. Dann lebte sie auch noch mit einem Franzosen zusammen … also, ich hatte wenigstens noch einen Norweger geheiratet, aber ein Franzose? Wie konnte sie bloß mit einem Franzosen zusammen leben? Der Mann meiner Schwester explodierte vor Wut, aber er konnte die Eltern seiner Frau nicht einfach rausschmeißen.
Ingeborg lachte wiehernd, als sie mir das erzählte. Da war sie vierundneunzig Jahre alt: „ Dein Vater und ich, wir haben Tränen gelacht. Das war herrlich .“ Das war das letzte Mal in ihrem Leben, wo sie schallend gelacht hat. Danach starb sie.
Diese Erzählung hat mich weder überrascht, noch aufgeregt. Das war für mich nichts Neues. Wenn sie nach Norwegen kam, hat sie sich genauso benommen. Unter ihren Forderungen, Ansprüchen und Boshaftigkeiten bin ich körperlich zusammengebrochen. Das war eine rein physische Überanstrengung, psychisch hat sie mich nicht erschüttern können, ich habe die Frau zu tief verachtet.
Ihre letzten Worte vor ihrem Tod waren: „ Heidi, kannst du mir noch einmal verzeihen? “
Ich habe ihr daraufhin hoch und heilig versichert: „ Tante Ingeborg, ich habe Dir nichts zu verzeihen. “
Das war die Wahrheit, für mich gab es nichts zu verzeihen. Die Frau war mir zu gleichgültig, als dass sie mich hätte treffen können. Auf das Niveau habe ich mich nicht eingelassen. Ich bin weggegangen oder weggefahren, wenn sie bösartig wurde. Ich habe den Hörer aufgelegt oder das Gespräch unterbrochen, wenn sie am Telefon zu sticheln anfing.
Militärisch gesagt: Ich bin in Deckung gegangen, wenn Angriffe kamen. Ich bin ausgewichen, wenn Ingeborg mit Boshaftigkeiten um sich schoss. .Bei mir hat sie in die leere Luft geschossen. Das wusste sie. Das konnte sie aber nicht begreifen. Sie hatte alle terrorisiert, auch meinen Vater. Sie hatte über alle Kontrolle.
Ihre Seele war nicht von traumatischen Erlebnissen deformiert wie die meiner Mutter, Ingeborg war von Hochmut und Dummheit deformiert. Mit ihren Bosheiten war sie genauso stereotyp und rigide wie der verrückte Sexualverbrecher mit seinem Fahrrad.
Als mein Vater starb, wurde der liebe Gott ihr „Papi“, der ihr alles verzeihen musste, ganz automatisch. Das war sein Job. Aber ganz traute sie ihm doch nicht, ich sollte auch noch ein gutes Wort einlegen: „ Heidi, kannst du mir noch einmal verzeihen? “
Außerdem hatte sie noch die Tochter eines Pfarrers engagiert. Man kann nie wissen, besser ist besser. Irgendwie wird sich Gott wohl breitschlagen lassen.
Sie hat nicht begriffen, dass sie ihre Boshaftigkeiten mit sich selber hätte abmachen müssen. Sie hätte sich selber verzeihen müssen. Doch die Einsicht in ihre eigene Seele war ihr durch Hochmut und Dummheit versperrt. Das konnte sie nicht begreifen.
Dennoch hatten ihre Boshaftigkeiten weit reichende Konsequenzen für mein Leben.
Als Ingeborg vier Jahr alt war, bekam ihre Mutter ihren ersten Sohn. Natürlich war dieser Sohn der Erbe der väterlichen Firma und genauso natürlich stand er als Erbe des Vermögens im Mittelpunkt der Familie. Alles drehte sich um diesen Sohn. Hier begann der erste Kampf von Ingeborg. Dieser Rivale musste ausgeschaltet werden. Sie hat ihr Leben lang kein schwesterliches Verhältnis zu ihrem Bruder gehabt.
Ihr zweiter Kampf begann, als ihre Mutter in die psychiatrische Pflege kam. Die Kinder kamen jetzt zu ihren Großeltern nach Bremen. Bei den Großeltern lebte aber auch noch das jüngste Kind, die Schwester von Ingeborgs Mutter. Das war Tante Clara. Tante Clara war nur ein paar Jahr älter als Ingeborg. Sie wurde jetzt Ingeborgs ärgste Konkurrentin um die Gunst und Aufmerksamkeit ihrer Großeltern. Durch diesen jahrelangen eifersüchtigen Kampf, entwickelte sich zwischen Tante Clara und Ingeborg ein tief greifender Hass. Dieser Hass wahrte bis zum Tod von Tante Clara.
Ingeborg war die nächste Angehörige von Tante Clara, aber sie hatte keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Erbschaft. Tante Clara macht mit ihrem Vermögen, was sie wollte. Haupterbin waren laut Testament von Clara Schultz meine Schwester, ich und noch eine mir unbekannte Frau.
Ingeborg hat das nicht erschüttern können. Nach Tante Claras Tod unterschrieb sie alle Gerichtspapiere mit dem Namen meiner Schwester, mit dem Namen dieser unbekannten Dame und mit meinem Namen. In diesen Gerichtsakten ist schriftlich beglaubigt, dass wir unseren Erbschaftsanteil ordnungsgemäß erhalten hätten. Ingeborg fälschte drei verschiedene Unterschriften und das wurde vom Amtsgericht in Bremen anerkannt und notariell beglaubigt. Ein offizieller Bescheid hierüber wurde uns nicht einmal zugestellt. Es gibt Dinge, die gibt es gar nicht.
Als meine Schwester und ich nach dem Tode von Ingeborg ihre Wohnung aufgeräumt und ausgeräumt haben, fand meine Schwester diese Amtspapiere. Meine Schwester hatte mich in drei Erbschaftsauseinandersetzungen betrogen und bestohlen und glaubte, sie wäre auf diesem Gebiet ein nicht zu übertreffender Experte. Jetzt fand sie die gesetzlich beglaubigten Papiere darüber, dass es hier jemand noch besser konnte als sie. Ihre Empörung war laut, anhaltend und unversöhnlich. Sie stänkerte und schrie. Von diesem Schock konnte sie sich nicht mehr erholen. Die Erbschaftsnachfolge nach Ingeborg war für sie verpestet. Anneliese war stinksauer. Sie sprach nicht mehr mit mir.
Wie meisterhaft intrigant dieses Spiel von Ingeborg inszeniert war, hat meine Schwester bis heute noch nicht begriffen. Ingeborg war enterbt worden. Als Gegenzug hat sie dann alle betrogen, den Staat, das Amtsgericht und ihre eigene Familie. Sie hat alle Unterschriften gefälscht. Damit aber keiner auf die dumme Idee kam, diese Unterschriften zu überprüfen, hat sie alle gegeneinander aufgehetzt. Wir sollten uns gegenseitig mit Boshaftigkeiten das Leben zur Hölle machen. Das war Ingeborgs Sicherheit. Jeder beargwöhnte misstrauisch jeden. Solange Ingeborg lebte, würden wir niemals auf die Idee kommen, uns zusammen zu raufen, die Akten zu untersuchen und eine Anzeige gegen sie erstatten.
Dieses Intrigenspiel war genial eingefädelt. Die Möbel, die meine Schwester und ich von Tante Clara geerbt hatten, verkaufte sie an Theodor. Danach behielt sie zwei Stühle selbst, gab einen Sessel an meine Schwester und einen an Theodor. Das erzählte sie telefonisch dem einem und dem anderen:
„ Hast du das mitbekommen? Heidi bekommt dies. Theodor hat das mitgenommen. Was bekommst du? Und das lässt du dir gefallen?“
Theodor hatte gezahlt und dann hatte er nichts als Boshaftigkeiten in den Händen. Wenn es an seinen Geldbeutel geht, verliert Theodor die Beherrschung. Er fuhr nach Bochum. Im Hause meiner Mutter wurde er nicht mehr empfanden. Theodor schlief tagelang im Auto vor ihrem Haus. Darüber wurde in der Nachbarschaft geklatscht. Die Gerüche kamen bis zur Schule, wo meine Mutter arbeitete. Das wurde peinlich für meine Mutter.
Meine Schwester verlor die Nerven und brachte den Sessel zum Hauptbahnhof in die Gepäckaufbewahrung. Theodor musste nochmals bezahlen, um ihn hier wieder heraus zu holen.
Alle waren sauer. Jeder stänkerte gegen jeden. Jeder intrigierte gegen jeden. Jeder war erbost über jeden. Mein Vater sprach nicht mehr mit mir.
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