Über eine Heiratsvermittlung wurde ihm der Kontakt mit Frauen vermittelt. Auf dem ersten Treffen mit diesen Frauen hat er mich mitgenommen. Ich sollte meine Meinung äußern.
Alle Frauen, die ich kennen lernte, waren reizend. Ich habe mich großartig mit ihnen verstanden. Von einigen wurde ich wie eine Tochter behandelt.
Meine Lobreden über diese Frauen haben meinen Vater nicht beeinflussen können. Mein Vater hatte seine eigenen Vorstellungen und Wünsche.
Bei der einen Frau wohnten die ehemaligen Schwiegereltern im Haus nebenan. Das war zu nahe, das konnte nicht gut gehen.
Eine Frau war Rechtsanwältin. Mein Vater hatte Angst, sie könnte schlauer sein als er, sie könnte ihn übers Ohr hauen.
Eine Frau hatte zwei Söhne. Mein Vater war so hässlich von den Kindern seiner zweiten Frau behandelt worden, dass er keine Frau mit Kindern haben wollte.
Andere Frauen waren zu fromm oder spleenig oder kindisch oder sonst was.
Dann hörte ich lange Zeit nichts von ihm, bis der Bescheid kam, er wäre wieder verheiratet. Nach der Hochzeit wurde ich nach Bremen eingeladen. Ich wurde nicht um meine Meinung gefragt. Ich bekam keine Erklärung.
Die Frau war vierundfünfzig Jahre alt. Sie war nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Sie arbeitete bei Siemens in Bremen. Sie war frigide, besser gesagt, eiskalt und kurz angebunden. Ich wurde schnell wieder rausgeschmissen. Ich sollte alleine einen Bus finden und zum Bahnhof fahren.
Mein Vater war verändert. Früher war er mir gegenüber offen und führsorglich. Jetzt existierte ich nicht mehr. Das schmerzte. Mein Vater war der letzte Halt, den ich in meinem Leben hatte.
Warum er diese Frau geheiratet hat, habe ich erst viel später begreifen können.
Die dritte Frau meines Vaters hieß Ingeborg. Zuerst erfuhr ich, dass Ingeborg aus einer alten Bremer Familie kam. Ihr Großvater war Kapellmeister in Bremen gewesen. Mein Vater hatte hier Eingang in die feine Bremer Gesellschaft gefunden. Das war das Arkadien meines Vaters.
Der Vater von Ingeborg hatte einstmals eine Fabrik für Schiffstaue in Wilhelmshaven besessen. 1918 starb er an der Spanischen Grippe. Er fiel auf seiner Arbeitsstelle tot um.
Seine Verwandten nahmen ihm alle Schlüssel ab. Sie nahmen alles Bargeld an sich. Sie lehrten alle Konten. Sie schafften alle Wertpapiere zur Seite. Danach wurde die Fabrik Konkurs erklärt. Alles feste Eigentum wurde zur Konkursmasse hinzugerechnet. Mit dem Geld, das die lieben Verwandten zur Seite geschafft hatten, kauften sie die Konkursmasse zu einem Schleuderpreis auf.
Olga, die Mutter von Ingeborg, behielt nichts als ihre Villa, in der sie wohnte. Hier musste sie Zimmer vermieten, um sich und ihre Familie ernähren zu können.
Olga hatte sich als fünfzehnjähriges Mädchen mit einem steinreichen Fabrikbesitzer verlobt. Sie war von Dienstmädchen, Köchin und Chauffeur verwöhnt worden. Jetzt sollte sie zwei kleine Kinder alleine ernähren und aufziehen? Sie konnte nicht. Sie brach zusammen und wurde in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert. Die Kinder kamen zu ihren Großeltern nach Bremen.
Der Großvater von Ingeborg hatte vier Kinder, drei Mädchen und einen Jungen. Der Sohn war schon im neunzehnten Jahrhundert nach Amerika ausgewandert. Er hatte dort Fabriken gegründet und eine steinreiche Frau geheiratet. Das war der Millionär der Familie. Er hatte keine Kinder.
Dann wurden beide, der Onkel von Ingeborg und seine amerikanische Frau krebskrank. Sie kamen nach Deutschland zurück und kauften sich in Bodenwerder in der Nähe von Göttingen ein großes Eigentum. Dieses Eigentum wurde in der Familie das „Schloss“ genannt. Beide wurden bis zu ihrem Tod von der Universitätsklinik in Göttingen betreut.
Als Dank für diese Fürsorge, wurde die Villa oder das „Schloss“ in Bodenwerder an die Universität von Göttingen vermacht. Sie sollte als Erholungs- und Ferienort für die Ärzte der Universitätsklinik von Göttingen dienen, weil diese sich so aufopfernd um sie gekümmert hätten.
Die Universitätsklinik konnte die Unterhaltskosten für die große Villa und die Parkanlagen nicht bezahlen und verkaufte sie in den siebziger Jahren.
Bis dahin hatten die Schwestern von Herrn Schultz und ihre Familien das Recht, gratis ihre Ferien in Bodenwerder zu verbringen. Dann wurde das gesamte Vermögen aufgelöst. Jede der drei Schwestern erbte mehrere hundert Tausend Mark zur Absicherung ihres Lebensunterhalts.
Das Vermögen von Ingeborgs Mutter Olga sollten Ingeborg und ihr Bruder erben. Bertha, die drittälteste der Geschwister, war verheiratet, hatte aber auch keine Kinder. Als sie an Krebs starb, erbten ihre Schwestern Olga und Clara ihr Vermögen.
Clara, die jüngste der Geschwister, hat niemals geheiratet. Sie pflegte ihre Eltern bis zu deren Tod und erbte danach deren Vermögen. Nach ihrem Tod sollte ihr Vermögen an Ingeborg und ihren Bruder gehen. Allerdings bestand zwischen Clara und Ingeborg keine direkte Erbfolge. Clara konnte prinzipiell mit ihrem Geld machen, was sie wollte.
Sechzehn Jahre später tat Clara das auch. 1967 konnte mein Vater das noch nicht ahnen. Die Tatsachen, die er damals erfuhr, waren, dass er vier ältere Damen kennen gelernt hatte, die alle potentiell dicke Erbschaften machten, die aber alle nicht mit Geld umgehen konnten und die er alle beerben konnte.
Mein Vater war in seinem Element. Er fand Zugang in die feine Bremer Gesellschaft und gleichzeitig konnte er sein finanzielles Talent voll ausschöpfen. Die Frau wurde dabei als das geringste Übel aufgefasst.
Es kam anders, denn Ingeborg hatte einen speziellen Charakter: Sie war mit Lust und Freude ein boshafter Mensch. Intrigen, Lügen und Betrügen waren ihre Elemente.
Es gibt Psychopathen und es gibt lustvoll boshafte Menschen, lustvolle Lügner, lustvolle Diebe, lustvolle Mörder, lustvolle Betrüger. Gemein ist ihnen allen, dass das Unglück des anderen für sie lebensnotwendig ist, denn das beweist ihre eigene Überlegenheit, das erhöht ihren eigenen Wert und ihr eigenes Selbstwertgefühl. Theodor gehört auch in diese Kategorie.
Ob Ingeborg einen neurotischen Charakter hatte oder nicht, ist völlig unwesentlich, denn sie hatte viel zu lustvoll andere Menschen beleidigt und anderen geschadet, als dass sie sich hierüber jemals angelogen hätte. Unter Verdrängungen leiden solche Menschen niemals. Psychosen können lustvoll boshafte Menschen erst gar nicht entwickeln, weil es ihre größte Lebensfreude ist, sich an ihre Boshaftigkeiten und Gemeinheiten zu erinnern.
Dieses psychische System funktioniert so lange, wie diese Menschen jemanden haben, den sie treten können, auf den sie spucken können, den sie schaden können und auf den sie mitleidig hinunter sehen können. Darum sind diese Menschen notorisch geizig oder geldgierig oder machtgierig oder alles zusammen. Das sichert ihnen den Zugang auf und die Kontrolle über die, die von ihnen abhängen.
Ingeborg ist vierundneunzig Jahre alt geworden. Als ich sie kurz vor ihrem Tod besuchte, habe ich noch einmal die Höhepunkte ihres Lebens zu hören bekommen. Sie kramte aus ihren Erinnerungen ihre schönsten Geschichten hervor. Einer dieser Höhepunkte war ihre Reise nach Frankreich.
Meine Schwester wohnte mit einem Franzosen in der Nähe von Paris zusammen. Mein Vater und Ingeborg besuchten sie in den achtziger Jahren. Bei diesem Besuch nörgelten sie an allem herum.
Sie beschwerten sich über das Essen. Der Mann meiner Schwester war ein Gourmet. Essen war für ihn keine Ernährung, das war für ihn ein Kult, ein „savoir vivre“, das war die Kunst zu leben. Dann kamen diese germanischen Banausen und nörgelten an seinen Essensgewohnheiten herum. Der Hieb saß.
Ingeborg und mein Vater sprachen herablassend über die Franzosen. Der Mann meiner Schwester war Patriot. Der Hieb war tödlich.
Читать дальше