»Mein Gott – vergib mir Vater – sehen Sie nur! Nr. 4 und Nr. 5 haben auch Sch… äh sind auf die gleiche Art beschmutzt wie Nr. 1! «
»Das ist doch wohl kein Zufall, Herr Becker? Oder? Also was ist passiert? In dieser Schicht hatten nur Sie und Herr Mengele Zutritt zu diesem Trakt! Ich werde Sie wohl der Gefängnisleitung melden müssen!«
»Bruder Martin, bitte tun Sie das nicht«, sagte Brötchen mit gesenktem Kopf. »Bitte tun Sie das nicht! Ich weiß wirklich nicht, was passiert ist, aber ich werde mir Mosquito, äh Herrn Mengele, höchstpersönlich vorknöpfen. Ich fühle mich für ihn verantwortlich, schließlich habe ich ihn auf diesen Posten eingelernt. Ich weiß wirklich nicht, was in ihn gefahren ist! Aber seien Sie sicher, ich kümmere mich umgehend darum. Bitte geben Sie uns, äh, bitte geben Sie mir die Chance das Ganze wieder ins rechte Licht zu rücken.«
"Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das hinbekommen, Herr Becker? Sie wissen, wenn dies nicht der Fall sein sollte, dann fällt auch ein Schatten auf mich. Und Sie wollen mich doch sicherlich nicht in Schwierigkeiten bringen ... oder Herr Becker?«, fragte Bruder Martin mit einem scharfen, drohenden Unterton.
»Nein – nein um Himmels willen, wo denken Sie hin«, stammelte Brötchen. Ihr Wohl liegt mir am Herzen, ich werde Sie niemals in Bedrängnis bringen, seien Sie unbesorgt, Bruder Martin. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, dass so etwas nie wieder vorkommt.«
»Na, dann hoffen wir für uns beide und insbesondere für Sie, dass Ihre Macht tatsächlich ausreicht, hier sofort wieder Ordnung hineinzubekommen. Ich verlasse mich ganz auf Sie. Sollten Sie mich enttäuschen, dann … aber bis dahin haben Sie ja noch etwas Zeit, sich zu bewähren. Ich bin die nächsten vier Wochen nicht im Haus, da ich höhere Aufgaben erfüllen darf. Also enttäuschen Sie mich nicht! Wenn ich zurückkomme, will ich hier alles pikobello vorfinden, haben wir uns verstanden?«
Trotz seiner massigen Figur stand Brötchen zusammengefallen da wie eine nasse Semmel. Die Schultern hingen schon so weit nach vorne herunter, als wären sie ausgekugelt.
»Verlassen Sie sich auf mich, Bruder Martin, ich werde Sie nicht enttäuschen, ganz bestimmt nicht.« Bruder Martin stand bereits in der geöffneten Tür.
»Gott stehe Ihnen bei!«, sagte er mit der tonlosen Doppelzüngigkeit einer Schlange. Die Tür ging zu, um keine zwei Sekunden später wieder aufzuschwingen.
»Und vergessen Sie nicht, die beiden anderen zu reinigen! Apropos vergessen …« Er griff in seine schwarze Robe und zog seine Fernbedienung aus der Tasche. »Jetzt hätte ich beinahe versäumt, Ihnen allen noch einmal die Chance zu geben, an der Barmherzigkeit des Christentums teilzuhaben. Ich stelle Ihre Holo-Flat-Pads wieder auf die Grundeinstellung um. Ich bin sicher, Sie werden mir dankbar sein! Also dann, wir sehen uns wieder in vier Wochen. Möge Gott mit Ihnen sein.«
Die Tür schloss sich hinter ihm und wir waren mit Brötchen allein.
»Mosquito«, sagte er kochend vor Wut. »Ich klatsch Dich an die Wand…«
Ich war Bruder Martin tatsächlich überaus dankbar. Zum einen natürlich, weil er Brötchen mit Nachdruck dazu angeleitet hatte, unsere Oberlippen gründlich zu reinigen. Zum anderen hatte er die Holo-Flat-Pads auf die Grundeinstellung zurückgesetzt und damit unbewusst die Blockade der Religionsauswahl aufgehoben. Innerlich triumphierend stellte ich mein Holo-Flat-Pad auf Buddhismus ein, ohne jedoch zu wissen, ob dies tatsächlich die gewünschte Erleichterung bringen würde.
Mein Nachbar, der Brandstifter, zeigte seine Dankbarkeit völlig anders. Er ließ die Einstellung tatsächlich auf Christentum, zumindest für den Moment.
An diesem Tag war kein Zwangsprogramm angesagt und das war schön. Wie ich feststellen sollte, war jedes Wochenende frei und man konnte seinen Hobbys nachgehen. Wobei »nachgehen« alles andere als ein treffender Ausdruck war, genauso wie auch »Hobbys« in unserer Situation einen zynischen Beiklang hatte.
Mein Rücken schmerzte nach wie vor, es war keinerlei Erleichterung in Sicht. Gefangen sein ist eine Sache, aber im eigenen Körper gefangen sein eine völlig andere. Manchmal weiß man wirklich nicht, ob alles um einen herum die Realität ist oder es sich um irgendwelche Hirngespinste oder einen Traum handelt. Man hat keine Möglichkeit, es zu überprüfen.
Jegliche Interaktion funktionierte nur über den Fernseher an der Decke. Das Fenster zur Welt! Und was für eines! Ich selbst hielt mich eigentlich für einen etwas introvertierten Typ. Aber völlig ohne Gespräche, ohne Anregungen von Außen trocknet die Seele aus. Sie wird dürr, staubig und bekommt im Laufe der Zeit immer mehr Risse.
Kein Gespräch, nicht einmal laute Selbstgespräche waren möglich. Nur der Dialog mit sich selbst im Geiste. Und dabei begab man sich ständig in die Gefahr, ein dauerhaftes zweites »Ich« zu kreieren, nur um einen adäquaten Gesprächspartner zu haben. Ganz nach dem Motto: Wenn sonst schon keiner mit mir spricht, möchte ich mich wenigstens mit einem meiner Egos unterhalten können.
Nicht einmal das ruhelose Auf- und Ablaufen eines Tigers im Käfig konnte ich imitieren. Da hatte es der Mann mit der eisernen Maske aus Alexandré Dumas Roman richtig gut gehabt. Der konnte mit seinem Blecheimer auf dem Schädel wenigstens hin- und herlaufen und zur Aggressionsbewältigung irgendetwas umtreten, was im Weg herumstand.
Ich hingegen lag wie einbetoniert in meinem Körper und beneidete den Mann mit der eisernen Maske auch darum, dass er kleine Notizen in die steinernen Wände seiner Zelle hatte ritzen können. Kleine Gedächtnisstützen, denn wenn man lange mit sich alleine ist, wird das Wissen schwammig und die Wahrheit wächsern und man ändert sie gerne in die Form, wie man sie gerne hätte. So wie sie nach längerem hin- und herschieben am plausibelsten aussieht. Selbst die düstersten Varianten der Phantasie werden so stark verändert, dass die Farbe Schwarz noch düsterer wird. Doch der Wahrheitsgehalt wird immer schwammiger und diffuser. Am Ende werden (wie in der Farblehre) selbst alle Grundfarben Gelb, Blau und Rot nach dem Zusammenmischen wieder schwarz. Wenn auch ein sehr unsauberes Schwarz ...
Ich hatte keinerlei Möglichkeit, irgendwelche Notizen in Stein zu ritzen oder sonst irgendwie Aufzeichnungen zu machen. Ein Tagebuch oder auch nur ein Terminkalender ermöglichte es, sein Leben zu dokumentieren. Um mich herum schien nur eine Welt zu existieren, deren Wahrheitsgehalt ich nicht überprüfen konnte. Ich hatte keinerlei Möglichkeit etwas schriftlich zu fixieren – weder auf einem Stück Papier noch in elektronischer Form. Ich hatte nie geglaubt, dass ich das Schreiben so vermissen würde. Was war das Leben wert, wenn man seine eigene Existenz nicht dokumentieren und damit dingfest machen konnte. Man gab mir viele bunte Programme und Bilder, aber nichts womit ich der Wirklichkeit nachspüren konnte. Das vermutlich wichtigste Werkzeug zum Überleben besaß ich selbst. Es war das Kino in meinem Kopf. Oder, wie ich es für mich nannte: das vielleicht kleinste Kammerspiel der Welt.
Die Schwermut hatte mich wieder hinuntergezogen in den Sumpf des Selbstmitleides. Schwermut ist wie ein Moor, geboren aus Angst, Verfall und Tod. Solange man an der Oberfläche wandelt, hat alles seinen morbiden Reiz und sieht in der Nachmittagssonne gar schön, zart und zerbrechlich aus. Doch wenn die Dämmerung hereinbricht und man vom Pfad abkommt, sackt man zuerst bis zu den Knöcheln ein und die feuchte Kälte kriecht die Knochen hinauf. Die Kälte fängt an, einen zu lähmen. Langsam sinkt man immer tiefer und mit jedem Zentimeter abwärts verliert man die Kraft dagegen anzukämpfen …
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