1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Währenddessen hob sich das linke Kopfende meines Bettes, während sich das rechte Fußende nach oben verdrehte. Völlig unfähig sich auch nur der kleinsten Bewegung zu widersetzen, schob mich das Bett hin und her wie einen Einkaufswagen.
»Und denkt immer daran, was ihr morgens schon erledigt habt, kann Euch niemand mehr nehmen«, keuchte John Mc Lay fröhlich von der Decke herab.
So ganz unrecht hatte er ja nicht. Ich hatte früher einige Zeit lang vehement das Motto Der frühe Vogel wurmt sich vertreten, doch die alte Volksweisheit Der frühe Vogel fängt den Wurm hatte sich langsam aber sicher auch bei mir durchgesetzt. Vielleicht lag es am Alter? Mit 36 war man schließlich schon ein alter Sack! Nichtsdestotrotz hatten die frühen Morgenstunden einen gewaltigen Vorteil: Man hat alle Ruhe der Welt um nachzudenken, Sport zu treiben oder ungestört zu arbeiten. Für mich hatten sich die frühen Morgenstunden in den letzten Jahren als die kreativsten und erholsamsten Stunden des Tages herauskristallisiert, obwohl ich immer von mir geglaubt hatte, eine Nachteule zu sein.
Es stellt sich wohl generell immer die Frage: Ist mein Verhalten ein Produkt meiner Umwelt oder entspricht mein Verhalten tatsächlich meinen Neigungen?
Irgendwie tat mir die Bewegung des Bettes tatsächlich gut und brachte nicht nur meinen Kreislauf, sondern auch mein Denken wieder in Schwung. Ich versuchte, ein Resümee aus meinem Traum zu ziehen: Vergrabe Dich nicht in Deinem Selbstmitleid und warte nicht auf irgendeine Fernsehanwältin, die Dich hier herausholt. Du bist völlig auf Dich alleine gestellt. Dieses ständige Gejammer … Warum ausgerechnet ich? … half ganz entschieden nicht weiter.
Und warum nicht ausgerechnet ich? Wenn ich nicht hier liegen würde, würde es ein Anderer tun, der mit der Situation nicht so gut umgehen kann … also steh das Ganze durch, so gut es geht! Mit dieser Selbstanalyse sprach ich mir selbst gut zu, denn mir war inzwischen klar geworden: Es gab niemanden mehr, der zu mir stand, außer vielleicht meinem Anwalt, der mir versprochen hatte, weiter am Ball zu bleiben. Und bei ihm war ich mir absolut nicht sicher, ob er es wegen seiner persönlichen Reputation in der Öffentlichkeit, des Geldes oder tatsächlich wegen mir tat. Was also blieb mir übrig, als mich selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen?
»Und jetzt kommen wir zu den Dehnübungen, denn nur wer körperlich flexibel ist, kann dies auch geistig sein!«, gab der braungebrannte Bettenmogul zum Besten. »Als Erstes werden die Füße von der Matratze nach hinten gedrückt, um einer Sehnenverkürzung entgegenzuwirken. Immer schön in die Dehnung atmen!«, kam schon der nächste Tipp von Mc Lay. Ich versuchte diese aktive Zeit dafür zu nutzen, mir einen Schlachtplan für die nächsten Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre zusammenzuzimmern. Wenn ich mich nicht von der Hirnwäsche des Erziehungsprogramms fortspülen lassen wollte, musste ich folgende Regeln einhalten:
1.) Die Augen während des Erziehungsprogramms nicht länger als fünf Sekunden schließen, da ich ansonsten von einem immer stärker werdenden Elektroschock zur Aufmerksamkeit gezwungen werde.
2.) Die gezeigten Bilder und den Ton nicht an mich herankommen lassen. So wie das aktive Ignorieren von Pop-Up-Seiten im Internet.
3.) Nicht auffallen! Vollzugskonform erscheinen!
4.) Versuchen, während des Erziehungsprogramms den eigenen zu Gedanken folgen.
5.) Darüber nachdenken, ob Sunnys Tod ein Unfall war oder tatsächlich ein Mord, den jemand erfolgreich versucht hatte, mir in die Schuhe zu schieben.
Wenn es eine sechste Regel gegeben hätte, dann hätte sie gelautet: Keine weiteren Regeln – fünf sind eigentlich schon fast zu viel! Zu viele Regeln führen immer dazu, dass man erst eine nicht einhält, dann die nächste und am Schluss fällt das gesamte Regelwerk mangels Konsequenz und Übersichtlichkeit auseinander.
»So und jetzt bleiben wir ruhig liegen, entspannen uns und fühlen unseren Körper!«
Was glaubte dieser Betten-Fitness-Idiot eigentlich, was ich den ganzen lieben langen Tag machte? Im Park spazieren? Nicht einmal in der Nase bohren war mir vergönnt! Ich lag hier wie eine einbalsamierte Mumie, wurde von einem Wunderbett gebogen, gefaltet und gestreckt, damit die Bandagen elastisch und beweglich bleiben!
Hätte ich gewusst, was als Nächstes kommt, hätte ich liebend gerne eine weitere Runde mit John Mc Lay und seinem durchtrainierten Fitnessteam verbracht. »Guten Morgen meine lieben irregeleiteten Schäfchen«, fing Bruder Martin an, salbungsvoll aus dem Holo-Flat-Pad zu sülzen. »Nachdem wir uns jetzt schon ein wenig kennengelernt haben, möchte ich Euch in den nächsten zwei Stunden aus der Bibel vorlesen und das Gelesene für Euch interpretieren. Ich habe Euch heute die Geschichte von Kain und Abel mitgebracht. Eine, wie ich finde, äußerst passende Geschichte – denn Ihr seid alle böse, jeder auf seine Art …« Beinahe hätte ich mich mitreißen lassen, nur um herauszubekommen, weswegen ich angeblich so böse sei. Ich beschloss dann aber doch, an meinem Fünf-Punkte-Plan festzuhalten.
Um nicht aufzufallen, hatte ich den Ton soweit heruntergedreht, dass ich meine Aufmerksamkeit dem Gesagten entziehen konnte, jedoch nicht soweit, dass es auf den Kontrollprotokollen aufgefallen wäre. Als Nächstes versuchte ich durch die Bilder zu schauen, die Bruder Martin in seiner ermüdenden Litanei sozusagen als Diaschau begleiteten. Und obwohl die Bilder alles andere als spannend waren oder vielleicht gerade darum, erwischte ich mich immer wieder dabei, wie ich sie betrachtete. Ich versuchte mich daraufhin auf den oberen Bildschirmrand zu konzentrieren und Bruder Martins Missionierungsshow auszublenden. Umsonst … »Du bist böse! ... Du bist böse! ..." Der Satz wiederholte sich ständig und die Lettern vergrößerten sich, bis sie den Rand des Bildschirmes überschritten, um vom Fluchtpunkt aus wieder auf mich zuzurasen. »Du bist böse, böse – böse ...« – Wenn das so weiterginge, würde ich zuerst einen furchtbaren Schädel bekommen und dann vermutlich mürbe werden.
Plötzlich fiel mir der Rafting-Guide und was er uns über Kehrwasser eingebläut hatte wieder ein und erinnerte mich daran, dass ich nach einem Ruhepunkt in dieser aggressiven Bild-Beeinflussung suchen wollte. Aber wie konnte mein persönliches Kehrwasser aussehen?
Wie sah ein echtes Kehrwasser aus? Ich dachte an unsere Rafting-Tour und hatte plötzlich diesen tosenden Wildwasserfluss vor Augen. Vor uns ragte wie der Buckel eines Wales ein dunkelgrauer Granitblock aus den tosenden Fluten hervor. Er lag direkt in der Hauptströmung, das Wasser schob sich weiß schäumend an diesem Walbuckel empor, um seitlich in einer Art Strudel auf beiden Seiten herunterzufließen.
»Hinter dem Buckel liegt ein Kehrwasser «, hörte ich unseren Guide schreien. »Wir fahren da jetzt rein, also paddelt was das Zeug hält!« Wir kämpften uns durch Wellenberge und aufsteigende Gischt, die von unserem Raft klatschend aufgeworfen wurde. »Wenn wir hinter dem Felsblock ins Kehrwasser fahren – gut festhalten!« Er steuerte das Raft in einem spitzen Winkel direkt hinter den Felsen. Wir hatten das Boot ordentlich beschleunigt, als wir hinter dem Walbuckel einfuhren. »Festhalten!« Dann riss es das Raft in einem gewaltigen Ruck herum, sodass es von einer Sekunde zur anderen mit der Spitze flussaufwärts zeigte. »Paddelt!«, schrie es wieder von hinten. »Hopp-Hopp, noch ein paar Schläge, dann haben wir es geschafft.«
Und tatsächlich: Ruhig schaukelnd lag das Raft hinter dem Felsblock. Die ganze Spannung war abgefallen, das Herz hämmerte noch immer wie verrückt und pumpte damit nur noch schneller die ausgestoßenen Endorphine durch den Körper, um ein grandioses Glücksgefühl zu erzeugen. Wir johlten wie verrückt, sodass uns die Angler am Ufer vermutlich für einen sturzbetrunkenen Kegelklub hielten, dessen Mitglieder sich erst ordentlich einen ansaufen mussten, um die Courage zu haben, ins Boot zu steigen.
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